Wissen, das flüchtig wird

ABSCHIED In der sonntaz ist die Erinnerung an Christian Semler groß, hier stehen seine Bücher

Noch lebt er, obwohl er tot ist. Christian Semler, gestorben am 13. Februar. Seit Kurzem sitze ich da, wo er lange saß: in seiner Bibliothek unterm Dach des taz-Hauses im sechsten Stock. Semler war in den dritten Stock gezogen. Er nahm nur mit, was er für sein aktuelles Thema brauchte. Über „Glück“ arbeitete er gerade, sagt man im dritten Stock. Auf seinem Regal dort indes: vor allem Folianten über Kirche, Päpste und Glauben.

Überall in der sonntaz-Etage im sechsten Stock stehen Christian Semlers andere Bücher. Am dichtesten gedrängt in diesem kleinen Zimmer zwischen Treppenhaus, Aufzug und Flur. Hier hat er gearbeitet, hier redeten wir miteinander. Meine Fragen waren simpel – wie es geht? Seine Antworten: Welterklärungen. Sie gingen vom Tod zur Erkenntnis, von der Erkenntnis zum Laternenfisch, vom Laternenfisch zur Kälte des Kalten Krieges. Manchmal waren seine Exkurse ermüdend, die Worte ein Versteck.

Als er krank wurde, sein Schreibtisch schon im dritten Stock stand, seine Schubladencontainer aber nicht, durchstöberte ich sie und fand Berge von Notizbüchern, in denen oft nur ein paar Seiten beschrieben waren. Unlesbar. Eins mit Goldschnitt hätte ich beinahe mitgenommen. Etwas Materielles war es, nichts, das sich auflöste. Auch diese Schatulle habe ich eines Tages aus dem Regal gezogen. Drin sind Fotos. Sie zeigen ihn als kommunistischen Führer auf Delegationsreise ins kommunistische China. Eine Episode. Diese und all die anderen in Semlers Leben haben damit zu tun, dass etwas auch anders sein kann. Die Schatulle ist in Stoff gebunden – ganz verstaubt, ganz schön. Daneben ein Buch: „Der SS-Staat“.

Zuletzt wollte Christian, wenn wir miteinander redeten, oft mehr sagen, als er sagen konnte. Da war dieses ganze Wissen – und da war diese Ahnung, dass es flüchtig ist. WALTRAUD SCHWAB