WIE SIND WIR DENN DRAUF?
: Gehüllt in Erde und Schlamm

Irgendwann im letzten Herbst war sie plötzlich überall, diese Farbe. Senfgelb. Ist doch keine Farbe, dachte ich, wie kann man so was tragen? Und musste gleichzeitig umso erstaunter feststellen, dass es nicht mal richtig scheiße aussah.

„Das liegt an der Deformation des Schönheitsbegriffs“, sagt Axel Venn, Hochschulprofessor für Farbgestaltung und Trendscouting in Hildesheim. „Diese Farbe beweist das fast Unmögliche: dass man Gelb verschmutzen kann.“ Goethe nannte Gelb „die nächste Farbe am Licht“. Das Lehmige dagegen, das sich im Senfgelb ausdrücke, sei ein subkultureller Ton, erklärt Venn. „Die Leute geben sich nicht mehr mit dem klassisch Schönen zufrieden.“ Die Erd- und Schlammfarben verdrängten geschlechtsspezifische wie Rosa und Hellblau. Insofern sei Senfgelb emanzipatorisch. Ob Mann oder Frau, ob arm, reich, jung oder alt – Senfgelb allerorten.

Neulich sah ich eine elegante ältere Dame: Kostüm, Mantel, Handtasche, Schuhe, alles schmutziggelb. Hätte sie noch ein rotes Hütchen getragen, wäre ich sicher gewesen, dass sie Werbung für Bautz’ner mittelscharf macht.

Warum taucht eine Farbe so plötzlich auf? – Dann sah ich Hitchcocks „Marnie“ wieder. Immer wenn ich nicht weiterweiß, gucke ich Hitchcock-Filme. Oder „Harry Potter“. Eins von beiden hilft immer. Und da war sie, die Farbe! Lil, die Schwägerin von Sean Connery alias Mark, Marnies Gegenspielerin, trägt einen senfgelben Mantel. Und der Morgenmantel, den Mark Marnie nach der Beinahevergewaltigung umlegt, ist auch senfgelb.

Das war der Ursprung!

Aber konnte es wirklich sein, dass die ganze Welt zur selben Zeit einen 50 Jahre alten Film gesehen und deshalb ihre Garderobe ausgetauscht hatte? Eher unwahrscheinlich. Aber welches Medium hat denn wirklich Macht über unsere Vorstellung von Normalität? Was beeinflusst denn durch ständige Wiederholung das Unbewusste? Genau: Fernsehserien. Und welche Fernsehserie bildet zurzeit mit an Fetischismus grenzender Akkuratesse den Stil der sechziger Jahre ab? Richtig: „Mad Men“. In der ersten Staffel trägt die neue Sekretärin Peggy Olson, gespielt von Elisabeth Moss, gerne mal einen senfgelben Cardigan.

Erbsensuppe statt Sushi

Axel Venn sieht in den Erd- und Waldfarben eine archaische Grundstimmung ausgedrückt, eine Sehnsucht nach der eigenen Geschichte. „Die Menschen haben auch kein Fernweh mehr, sondern Heimweh“, behauptet Venn, „Statt Sushi essen sie Erbsensuppe, statt luftiger Ikea-Möbel bauen sie sich Kamine in ihre Wohnungen.“

Letzten Donnerstag war ich zum Vorlesen in Neukölln, im Bezirk der Modebewussten. Gleich in der ersten Reihe des Publikums saß eine Frau, die einen senfgelben Schal trug. Anna hieß sie. „Den hat mir meine Mutter gestrickt“, berichtete mir Anna später, „vor vier oder fünf Jahren schon. Ich liebe Senfgelb!“ Ich war perplex. „Aber weißt du was“, sagte sie, „früher haben immer alle gesagt, wie scheiße das aussieht. Und jetzt rennen sie selber damit rum.“

LEA STREISAND

■ Die Autorin schreibt Texte aller Art, die sie regelmäßig bei Rakete 2000, aber auch auf anderen Bühnen vorliest. Alles Weitere auf leastreisand.wordpress.com