Die Angst und die Freude verkörpern

ERFAHRUNGSAUSTAUSCH Theater als Lebenshilfe, als Mittel der Distanz zur Krankheit – darum geht es den improvisierenden Tumoristen

Die meiste Zeit wird viel gelacht über die ausufernd albernen Geschichten

Krebs gehört zu den häufigsten Zivilisationskrankheiten überhaupt. In jeder Familie, jedem Kegelklub, jeder Yogagruppe und jedem Mietshaus gibt es Menschen, die an Tumorerkrankungen leiden oder gelitten haben. Trotzdem redet kaum jemand darüber. Obwohl zuletzt auch Prominenz wie Christoph Schlingensief mit ihrer Krebserfahrung an die Öffentlichkeit gegangen ist. Die meisten Betroffenen schweigen aus Scham. Der Rest verdrängt seine Ängste.

Die Improtheatergruppe „Die Tumoristen“ wendet sich gegen die Angst und gegen die Tabuisierung. Einmal die Woche treffen sich die vierzehn Spieler zum Proben im Theater BühnenRausch in Prenzlauer Berg. Mindestens einmal im Monat gibt es dort auch den SpielplatzTheater. Da darf dann jeder mitmachen.

Entstanden ist das Ensemble aus einem Improvisations-Workshop für Krebsbetroffene, den Wolfgang Wendlandt, ehemaliger Hochschulprofessor für Psychologie und Psychotherapie, im Herbst 2010 an der Charité durchführte. „Es kamen einfach immer mehr Leute – Erkrankte wie Angehörige, die mitspielen wollten“, erzählt Wendlandt. Da jedoch bestimmte Spieltechniken für diese Form des Theaters beherrscht werden müssen und weil das Vertrauen der Spieler zueinander die wichtigste Voraussetzung ist, konnte der Spielerstamm nicht unbegrenzt erweitert werden. So entstand die Idee des SpielplatzTheaters.

Da ist die Bühne frei für das Publikum. Jeder kann eine der Spielvorlagen der Improvisation, die Keith Johnstone in den 1970ern entwickelte, zusammen mit den geübten Tumoristen ausprobieren. Oder man kann spielen lassen nach der Methode des Playbacktheaters. Dazu geht Moderator und Spielleiter Wendlandt ins Publikum und fordert es auf, von sich zu erzählen.

Eine Frau im Rollstuhl erzählt, dass sie vor wenigen Tagen das erste Mal in ihrem Leben gelaufen sei, dank einer computergesteuerten Maschine, die die fehlenden Nervenverbindungen in ihren Beinen simulierte. „Der Boden war plötzlich so weit weg“, sagt sie glücklich. Die Empfindungen der Frau werden durch die Tumoristen auf der Bühne nachgespielt. Ein Spieler stellt dabei sie dar, einer die Maschine, einer die Angst und einer die Freude. So kann die Frau den im wahrsten Sinne des Wortes bewegenden Moment noch einmal erleben und mit anderen teilen.

„Manchmal gehen einem die Geschichten der Leute richtig an die Nieren“, erzählt Jutta, eine der Spielerinnen. Der offensive Umgang mit Emotionen ist nicht jedermanns Sache. Manchmal wird die Grenze zur Peinlichkeit gestreift. Die meiste Zeit aber wird viel gelacht über die ausufernd albernen Geschichten, die aus der Improvisation entstehen, aus dem ständigen Einwurf neuer Assoziationen. Etwa die Geschichte eines Briefes von 1810, verfasst von einem gewissen Egon, der sich für Beethoven hält und von Goethe im Gefängnis besucht wird. Der Brief geht verloren und wird hundert Jahre später wiederentdeckt von Sigmund Freud, der daraufhin die Sexualwissenschaft begründet, nicht die Psychoanalyse.

Das Angebot wird dankbar angenommen. In der Pause sitzen Spieler und Zuschauer zusammen und tauschen Erfahrungen aus. Viele Besucher finden hier einen geschützten Raum, die oft traumatischen Erfahrungen mit der Krankheit erstmals zu reflektieren oder auf der Bühne reflektiert zu bekommen.

Zum Schluss erzählt eine Frau aus der letzten Reihe, sie sei heute zum ersten Mal hier. Letztes Mal habe sie schon vor der Tür gestanden, sich dann aber doch nicht getraut. Sie ist extra aus Zehlendorf angereist. Es braucht Mut, sich auf diese Form der Bewältigungsarbeit einzulassen, vor Fremden, vor Publikum.

Um Kunst geht es hier nicht. Die Tumoristen sind eine spielerische Selbsthilfegruppe. Nicht mehr und nicht weniger.

LEA STREISAND

■ SpielplatzTheater am Sonntag, 24. 2., 16–19 Uhr, im Theater BühnenRausch. www.tumoristen.de