Film über Kriegsverbrechen: Die Bedrohung der Zeugen

In Hans-Christian Schmids Politthriller "Sturm" ist der Abstand von Recht zu Gerechtigkeit eine Kluft, über die nur ein sehr dünnes Seil gespannt ist.

Mira (Anamaria Marinca) ist Hannah Maynards (Kerry Fox) einzige Hoffnung, den Kriegsverbrecher Duric überführen zu können. Bild: dpa

Das Recht kennt verschiedene Aggregatzustände. Einerseits existiert es in schriftlicher Form, niedergelegt in Gesetzen und Vorschriften, Akten und Dokumenten. Es ist das Recht, das verlangt, seinem Buchstaben treu zu sein. Dann wieder ist das Recht eine Sache des gesprochenen Wortes, und der Gerichtssaal ist der Ort von Rede und Gegenrede. Wie auf einer Theaterbühne versucht jede Seite, durch ihren Auftritt zu überzeugen. Diesen Teil des Rechts liebt das Kino.

Auch in "Sturm" von Hans-Christian Schmid gibt es den alles entscheidenden Moment im Verhandlungsraum, die Schlüsselszene, in der alle Karten neu gemischt werden. Aber Schmid zeigt ebenso den Preis, den man zu zahlen bereit sein muss, um überhaupt bis zu diesem Moment zu gelangen.

Hannah Maynard (Kerry Fox) ist Anklägerin im Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Sie macht ihren Job schon lange, aber nicht so lange, dass sie über den Berichten von Gräueltaten, Menschenrechtsverletzungen und Hinrichtungen, die täglich über ihren Schreibtisch gehen, den Glauben an ihre Aufgabe verloren hätte. Sie weiß, dass nicht mehr viel Zeit bleibt - die UN hat beschlossen, dass Den Haag seine Arbeit bis Ende 2010 abgeschlossen haben muss -, aber sie weiß ebenso, dass eine Anklage nichts wert ist, die sich nicht auf Fakten stützen kann.

Als ihr Hauptzeuge im Prozess gegen einen ehemaligen General der jugoslawischen Volksarmee einer Falschaussage überführt wird, droht diese gut gemeinte Lüge das gesamte Verfahren zu kippen. Zornig wirft Hannah dem Zeugen vor, dass er sich verantwortlich fühlen darf, wenn ein Kriegsverbrecher seiner Verurteilung entgeht. Am nächsten Morgen findet man die Leiche des Mannes, der sich aus Scham erhängt hat.

In "Sturm" ist der Abstand von Recht zu Gerechtigkeit eine Kluft, über die nur ein sehr dünnes Seil gespannt ist. Die richtige Balance darauf findet Hannah durch Geduld und Zähigkeit. Mit jeder Geste macht Kerry Fox spürbar, welche Kämpfe diese nicht mehr ganz junge Frau durchstehen musste, um ihre Position in einer von Männern dominierten Welt zu erreichen und zu halten.

Aus dem Hinterhalt

Jüngere Kollegen warten darauf, dass sie einen Fehler macht. Andere werden früher befördert und nutzen ihren Posten, um unliebsame Aufgaben und Verantwortung von sich auf andere abzuwenden. In der Republika Srpska müssen diejenigen, die nach dem Krieg Gerechtigkeit ermöglichen wollen, kugelsichere Westen anlegen. In Den Haag erfolgen die Angriffe ebenfalls aus dem Hinterhalt, in einem gefährlichen Dickicht aus Diplomatie, Ränkespielen und Opportunismus.

Schmid und sein Kameramann Bogumil Godfrejow inszenieren das Haager Tribunal als Politthriller auf verwinkelten Bürofluren und auf den Ledersofas unpersönlicher Hotellobbys. Gespräche auf Kunstvernissagen sind taktische Züge auf einem politischen Schachbrett, persönliche Beziehungen das Schmiermittel, um Entscheidungen möglich zu machen. Der Wille zur Gerechtigkeit rennt sich an den glatt betonierten Mauern der Realpolitik den Kopf ein.

Hannah besucht die Schwester des Zeugen, Mira (Anamaria Marinca), aber statt Antworten tauchen immer neue Fragen auf. Bald ist klar, dass Mira die eigentliche Zeugin ist und ihr Bruder sie nur beschützen wollte. Vor den alten Kräften, die von ihrer Macht nichts verloren haben und die auf einmal beide Frauen bedrohen. Dass Mira ein Opfer systematischer Vergewaltigungen während des Krieges auf dem Balkan wurde, hat sie ihrem deutschen Ehemann bis heute nicht erzählt.

Der dritte Zustand

In Deutschland wartet ein Leben jenseits des Krieges auf sie, aber nur durch ihre Hilfe kann der Mann, der für ihr Leid und das vieler anderer Frauen verantwortlich ist, zur Rechenschaft gezogen werden. Damit erkundet Schmid den dritten der Zustände, den das Recht einnehmen kann: als ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Was ist jeder Einzelne bereit, aufzugeben, damit nicht Rache, sondern Gerechtigkeit geschieht?

Man braucht nicht anzunehmen, dass der reale Alltag eines Kriegsverbrecherprozesses sich reibungslos auf die Erzählkonventionen der Kinoleinwand übertragen lässt. Schmid und Drehbuchautor Bernd Lange erzählen eine genau beobachtete Geschichte aus unserer Gegenwart und sie schaffen eine Allegorie, die sich die Freiheiten der Konstruktion und der Verdichtung erlauben kann. Aus den so spröden wie entsetzlichen Tatsachen des Den Haager Tribunals eine Geschichte gesponnen zu haben, die uns daran erinnert, dass hinter jedem Gerichtsprotokoll ein Schicksal steht, das die Mühen der Wahrheitsfindung lohnt, ist das Verdienst des Films.

"Sturm". Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Kerry Fox, Anamaria Marinca u. a. Deutschland/Dänemark 2009, 103 Min.

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