Politologe über zerissene SPD: "Der SPD fehlt ein Richtungsstreit"

Der Politologe Franz Walter hält das Gerede über linke und rechte Sozialdemokraten für absurd. Die Parteiflügel liegen im Clinch, gerade weil es inhaltliche Differenzen nicht mehr gibt.

Durch seine Entschuldigung hat sich Clement schlau neuen Spielraum geschaffen, meint Franz Walter. Bild: ap

taz: Herr Walter, seit Wochen streitet die SPD um einen möglichen Parteiausschluss ihres früheren Wirtschaftsministers Wolfgang Clement. Ist der Fall mit seiner Entschuldigung erledigt?

Franz Walter: Der Gang nach Canossa war ein geschickter Schachzug von Clement, um sich wieder Spielraum zu verschaffen. Wäre er aus der Partei ausgeschlossen worden, hätte sich bald keiner mehr für seine Positionen interessiert. Seine Äußerungen werden ja nur deshalb von den Medien beachtet, weil er sich als Sozialdemokrat mit den Positionen der eigenen Partei anlegt.

Clement und sein Anwalt Otto Schily sagen, mit dem Ausschlussverfahren solle eigentlich die Agenda 2010 demontiert werden. Ist das so?

Das ist absurd. Der Erste, der einen Parteiausschluss ins Spiel brachte, war seinerzeit Peter Struck. Er ist nicht als radikaler Gegner der Agendapolitik bekannt. Der Agenda-Architekt Frank-Walter Steinmeier wird vermutlich Kanzlerkandidat, alle wichtigen SPD-Minister im jetzigen Bundeskabinett haben die Agenda mitgetragen.

Aber ein willkommenes Ventil für den Frust an der Basis war die Causa Clement schon?

Ein Ventil für den Frust über Clement, der diesen Leuten immer wieder seine Verachtung gezeigt hat. Aber nicht ein Ventil gegenüber Schröders Politik. Würde Schröder im Bochumer Ortsverein auftreten, dann würden ihm die Genossen dort zujubeln.

Clement ist nicht der einzige Sozialdemokrat, der einer eher linken Basis herablassend begegnet. Ist dieser ideologische Graben noch zu überwinden?

Mit Ideologie hat das nichts zu tun. Es gibt einen spezifischen Typus von Politiker, der sich für besonders intelligent hält und das ganz herrisch verkörpert. Diese Leute haben immer Probleme, das war auch bei Kurt Biedenkopf in der CDU so.

War der Aufstand gegen die Agenda also nur ein Kommunikationsproblem, wie die Führungsriege gerne behauptet?

Daraus ein bloßes Befindlichkeitsproblem zu machen, das kann einem nur im Raumschiff Berlin einfallen. Jemand wie Kurt Beck fährt als Ministerpräsident viele Monate im Jahr kreuz und quer durchs Land. Dort bekam er Tag für Tag von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zu hören, welche Existenzängste sie haben. Deshalb hat Beck, der ja kein Linker ist, die Agenda korrigiert.

In der Öffentlichkeit hat das zu dem Eindruck geführt, der linke Flügel habe jetzt in der SPD das Übergewicht.

In der SPD gibt es doch längst keinen Richtungsstreit mehr, sondern nur noch einen Kampf zwischen verschiedenen Cliquen. Sie müssen nur ein paar Minuten mit einem Parteilinken reden, schon hören Sie die übelsten Kolportagen über Seeheimer oder Netzwerker. Umgekehrt ist es genauso. Was sind denn die Zielperspektiven der Parteilinken, die sich vom Rest der Partei unterscheiden?

Zum Beispiel die Kritik an der Agenda?

Waren die Repräsenanten des linken Flügels etwa gegen die Agenda? Haben Michael Müller oder Heidemarie Wieczorek-Zeul im Bundestag mit Nein gestimmt? Auch Andrea Nahles hat nur gesagt, die Dinge müssen korrigiert werden. Das hätten Linke früher als reformistisch bezeichnet, als rechte Stückwerkpolitik.

Vielleicht bei Andrea Ypsilanti in Hessen?

Mag sein. Aber man kann nicht sagen, dass Frau Ypsilanti die geistige Hegemonie in der deutschen Sozialdemokratie hätte.

Sie stufen die heutige Parteilinke als reformistisch ein - sind dann die Befürworter der Agenda die Ideologen, wie früher die orthodoxen Marxisten?

Die Agenda ist keine ausformulierte Ideologie. Das war eine Regierungserklärung mit ein paar einzelnen Punkten, auch wenn sie von einem Teil der Befürworter behandelt wird wie eine Heilige Schrift. Das hat in der Tat etwas Ideologisches - aber vor allem bei jemandem wie Clement, der nicht mehr selbst in der politischen Verantwortung steht. Die meisten führenden Sozialdemokraten sind zu sehr Politiker, um sich gegen Veränderungen zu sperren.

Warum dann der heftige Streit, wenn es in Wahrheit keine Differenzen gibt?

Sigmund Freud spricht vom Narzissmus der kleinen Differenz. Wenn es keine ideologischen Unterschiede mehr gibt, bleiben am Ende nur noch Animositäten übrig. Das gilt auch für die große Koalition. Alle haben das Gefühl, es werde nur noch gestritten. Dabei sind die programmatischen Unterschiede zwischen Konservativen und Sozialdemokraten so klein wie noch nie in der deutschen Parlamentsgeschichte. Zwischen 1966 und 1969 war es umgekehrt. Damals gab es riesige Unterschiede, etwa zwischen ehemaligen Nazis und früheren Emigranten. Trotzdem funktionierte die Regierung viel besser als heute.

Inhaltlich sind sich in der SPD also alle einig?

Über das einzig Kontroverse wird nicht offen diskutiert: Wollen wir noch eine Volkspartei sein, die sowohl die gesellschaftliche Mitte als auch die sozial Randständigen vertritt? Oder geben wir dieses Modell auf, weil die Milieus heute zu weit auseinander sind? In der ersten Reihe der SPD sind viele der zweiten Meinung. Das muss man dann aber auch selbstbewusst vertreten. Das tun sie nicht.

Weil sie dann Koalitionen mit der Linkspartei anstreben müssten? Im Gegensatz zur Parteilinken, deren Konzept bei nüchterner Betrachtung auf eine Verdrängung der Linkspartei hinausläuft?

Das ist ja das Absurde. Wenn der linke Flügel die sozial Deklassierten für die SPD zurückerobern will, dann muss er die Linkspartei bekämpfen und nicht mit ihr koalieren. Die Strategen der politischen Mitte sind dagegen auf Koalitionspartner angewiesen, weil sie sich mit Wahlergebnissen zwischen 20 und 30 Prozent begnügen müssen. Wäre ein Machtpolitiker wie Gerhard Schröder heute SPD-Vorsitzender in Hessen, würde er jedenfalls sofort mit der Linkspartei koalieren. Daran zweifle ich keine Sekunde.

Clement lässt in der Atomfrage nicht locker. Bekommt die SPD im Wahlkampf damit ein Problem, auch angesichts steigender Energiepreise?

Im Gegenteil. Es war ein taktischer Fehler der CDU, auf dieses Thema zu setzen. Das verringert die Chance auf ein Jamaika-Bündnis. Schon deshalb wird die SPD einmütig am Atomausstieg festhalten - ganz egal, was Clement sagt.

Zurzeit sendet die SPD die Botschaft aus, sie habe in der eigenen rot-grünen Regierungszeit so gut wie alles falsch gemacht: Die Linken distanzieren sich von der Agenda, ein Rechter wie Clement vom Atomausstieg. Kann man mit einer solchen Botschaft in den Wahlkampf ziehen?

Als politisch urteilender Bürger halte ich die Agenda zwar für überwiegend falsch, als Politologe sage ich aber: Man kann nicht mit einer verschämten Aussage in den Wahlkampf gehen. Die einzige Chance der SPD besteht darin, erhobenen Hauptes die Erfolge der Agendapolitik herauszustellen und mit sich selbst im Reinen zu sein. Darin liegt die Rationalität des Kandidaten Steinmeier - mit einem Repräsentanten in die Kampagne zu ziehen, der selbstbewusst sagt: Ich habe das mit Gerhard Schröder zusammen gemacht, stehe dazu und will es fortführen.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN

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