Montagsinterview: "Der Begriff Lesbe ist politisch"

Maria do Mar Castro Varela ist Professorin, Lesbe und Tochter spanischer Gastarbeiter. Doch sie mag die Fokussierung auf solch zugeschriebene Eindeutigkeiten nicht.

"Gucken Sie mich an. Entspreche ich dem, was Sie sich unter Professorin vorstellen?" Bild: Wolfgang Borrs

Maria do Mar Castro Varela, Jahrgang 1964, ist in A Coruña im spanischen Galicien geboren und kam mit drei Jahren nach Köln. Sie ist Diplompsychologin, Diplompädagogin und promovierte Politologin. Ihr Dissertationsthema: "Utopiediskurse migrierter Frauen". Seit 2007 ist sie Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf.

Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Rassismusforschung und der Postkolonialen Theorie, der Utopieforschung sowie den Gender- und Queer-Studies.

Maria do Mar Castro Varela versteht den Begriff Lesbe wie auch den Begriff Feministin als politische Statements. Mit dem Diskurs, der damit verknüpft ist, werden gesellschaftliche Normierungen, die immer auch Macht- und Herrschaftsgefüge spiegeln, infrage gestellt.

Der Christopher Street Day wird am 28. Juni in Berlin zum 30. Mal gefeiert. Am 21. und 22. Juni findet zudem das schwul-lesbische Straßenfest rund um die Motzstraße statt. Maria do Mar Castro Varela betont die historische Bedeutung des CSD, bedauert jedoch seine kontinuierliche Depolitisierung.

taz: Frau Castro Varela, Sie sind Interviewpartnerin, weil bald CSD ist und weil Sie lesbisch sind. Wie finden Sie das?

Maria do Mar Castro Varela: Das finde ich bedenklich. Sie legen mich damit aufs Lesbischsein fest und heften mir das als Etikett an. So was ist schwierig. Ich bin ja auch Professorin. Und Tochter spanischer Gastarbeiter. Klassenbewusster Arbeiter. Vor allem bin ich eine politisch denkende Frau.

Warum lassen Sie sich dennoch auf das Interview ein?

Mit den Zuschreibungen ist es ja so eine Sache. Auf der einen Seite müsste ich ein Interview ablehnen, wenn ich, bloß weil ich lesbisch bin, interviewt werden soll. Auf der anderen Seite würde ich, ohne es zu wollen, durch die Ablehnung wieder etwas stabilisieren.

Was?

Ich würde damit signalisieren, dass ich vielleicht doch nicht lesbisch bin oder es nicht sein will. Trotzdem ist es bedenklich, weil das Etikett Lesbischsein so außerordentlich wenig über mich sagt. Und weil ich natürlich nicht so gern funktionalisiert werde.

Tochter spanischer Gastarbeiter, Professorin, Lesbe - wie gehen Sie mit diesen Zuschreibungen um?

Ich nehme sie zur Kenntnis und versuche ihnen zu widerstehen, indem ich herausarbeite, wie wenig sie von mir preisgeben. Die Philosophin Judith Butler hat mal gesagt: "Wenn ich sage, ich bin lesbisch, dann wissen Sie, dass ich lesbisch bin, aber Sie wissen nicht, was lesbisch meint." Die Obsession, die sich dahinter verbirgt, Menschen festzulegen, ist schon absurd. Da bleibt einem nicht viel, als die Zuschreibungen zu unterlaufen. Identität ist doch nichts Festgelegtes. Man kann sich ändern. Darf es auch. Ich bin heute eine andere als mit 19 Jahren, als ich mich zum ersten Mal in eine Frau verliebte.

Wie unterlaufen Sie Zuschreibungen?

Gucken Sie mich an. Entspreche ich dem, was Sie sich unter Professorin vorstellen?

Nicht wirklich.

Ich will nicht festgelegt werden, und ich will mich auch nicht selber festlegen. Sich selbst nicht festlegen, ist übrigens etwas ganz anderes, als sich politisch nicht zu positionieren oder Zuschreibungen zu negieren. Es würde keinen Sinn machen zu sagen: Nein, ich bin keine Lesbe. Das wäre kontraproduktiv. Aber ich will, dass man versteht, dass ich den Begriff Lesbe als politisches Statement benutzte. Und nicht als eins, das etwas darüber sagt, was ich in meiner Freizeit zu Hause tue.

Sind Zuschreibungen für Sie demnach Studienmaterial für gesellschaftliche Analysen?

Ich will wissen, wie es zu den Bezeichnungen kommt. Ich erkläre es an einem anderen Beispiel: Ich kam mit drei Jahren nach Deutschland. Bis ich zehn war, nannte man mich Gastarbeiterkind. Danach war der Begriff nicht mehr so stimmig. Also wurde ich Ausländerkind. Als ich Abitur machte, wurde ich Bildungsinländerin. Während meiner Studienzeit wurde ich zur Migrantin und heute bin ich eine Frau mit Migrationshintergrund. Das ist doch interessant. Wer lässt sich so etwas einfallen. Wie wirkt das auf mich? Was sagt es über die öffentliche Wahrnehmung?

Haben Sie - wie das Beispiel zeigt - schon als Kind gelernt, die Welt aus mehr als einer Perspektive zu betrachten?

Ich habe schon als Kind gemerkt, dass man mich auf Kontexte festlegen will, und ich habe das schon damals als gewalttätig empfunden. Mir gefiel das Wort Ausländerin nicht, und ich wurde schon als Kind mit Steinen beworfen. Als wir in eine andere Siedlung zogen, wo mehrheitlich Deutsche wohnten, wollte man mit mir und meinem Bruder zuerst auch nicht spielen. Es gibt allerdings eine noch viel dramatischere Erfahrung.

Welche?

Auf dem Weg zur Schule standen einmal Jungs am Straßenrand, die einen Backstein in der erhobenen Hand hielten. Da sagte einer: "Nein, die kannste vorbeilassen, das ist ne Deutsche." Ich bin vorbeigegangen, aber ich vergesse das Schamgefühl nie, das ich hatte, weil ich nichts gesagt hatte. Ich schämte mich, weil ich fand, dass ich meine Eltern verraten hatte. Und weil ich nichts unternommen habe, um den nächsten, der vielleicht nicht als deutsch durchging, zu schützen.

Was lernten Sie aus solchen Erfahrungen?

Es hat mich zu einer Suchenden gemacht. Eine Zeitlang dachte ich dann, ich will nicht mehr in Deutschland leben. Ich will dahin zurück, wo ich herkomme.

Hatten Sie eine Vorstellung von Heimat?

Wir sind jedes Jahr nach Galicien gefahren, wo meine Eltern herkamen. Die Familie dort, die Sprache, das habe ich mir so zusammengebaut als Heimat. Ich habe deshalb neben dem deutschen, auch das spanische Abitur gemacht. Tatsächlich bin ich auch einmal ausgewandert, war aber einen Monat darauf schon wieder in Köln. Erst später verstand ich, dass ich etwas suchen kann, aber nicht unbedingt etwas finden muss.

Was ist der Vorteil, wenn man sich nicht auf eine Sicht auf die Dinge verlässt?

Vereinfacht könnte man sagen: Man sieht mehr. Man ist nicht immer nur fokussiert auf Eindeutigkeit, auf Klarheit. Ich habe dadurch keine Angst vor Veränderungen, sondern ich sehe ihnen entgegen. Ich bin in Unruhe versetzt, aber nicht beunruhigt davon. Und wenn ich Festlegungen widerstehe, ist damit auch die Versuchung kleiner, andere festzulegen. Das finde ich spannend.

Sie sind Kind von Gastarbeitern und heute Professorin - ein erstaunlicher Weg.

Wenn man sieht, wie viele das in Deutschland geschafft haben, ist es schon erstaunlich. Als ich zum ersten Mal zur Berufsberatung ging, wollte ich Dolmetscherin werden. "Das ist nichts für dich", antwortete die Beraterin. "Gut, was ist dann was für mich?" "Schuhverkäuferin", sagte sie. Da waren selbst meine Eltern sauer, als ich es ihnen erzählte. "Die kennt dich doch nicht, wie kommt die darauf?", fragte meine Mutter. Für sie als Arbeiterin wäre es schon was Tolles gewesen, wenn ich einen Job im Büro oder in einer Bank gewählt hätte. Hauptsache etwas Statushöheres. An Professorin musste sie sich allerdings erst gewöhnen. "Warum ist Lesen Arbeit?", fragt sie. "Wieso bekommt man fürs Reden Geld?" - Diese Neukodierungen von Arbeit finde ich auch sehr interessant.

Kommt es in Ihrer beruflichen Praxis vor, dass Sie nicht wegen Ihrer Forschungen und Theorien als Wissenschaftlerin gefragt sind, sondern weil Sie Migrantin sind?

Ich saß schon auf Podien, da stand unter meinem Namen: Migrantin. Bei den anderen stand: Soziologe, Politologe oder sonst ein Beruf. Im Grunde bin ich dankbar für solche Ausrutscher. Ich benutze so etwas sofort, um in die Diskussion einzusteigen. Das ist ja wirklich auch ein Problem: Wenn da auf dem Schild "Migrantin" steht, bin ich als Repräsentantin für eine ganze Gruppe eingeladen. Von denen mich die meisten womöglich gar nicht als Repräsentantin sehen wollen.

Warum nicht?

Die einen, weil sie sagen: "Die ist doch Europäerin - dann ist sie gar keine Migrantin mehr." Die anderen weil sie sagen: "Die ist ja lesbisch - wie kann sie da für die Migranten reden, das ist ja völlig absurd." Die Dritten meinen: "Ach, Professorin ist sie - da hat sie doch keine Ahnung, wie es uns Migranten wirklich geht." Und alle Einwände haben ihre Berechtigung. Denn das ist das Dilemma der Repräsentation.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender- und Queer-Studien. Warum ist Geschlecht eigentlich so ein heikles Thema?

An sich ist es kein heikles Thema. Aber die wissenschaftliche und die politische Debatte machen es zu einem. Heute redet man gern von Gender, weil man nicht mehr darüber reden will, dass es faktische Diskriminierung von Frauen qua Geschlecht gibt. Das finde ich einigermaßen problematisch. Sehr viele Studentinnen beharren auch darauf, dass sie nicht diskriminiert werden. Sie glauben tatsächlich, dass sie als Frauen alles erreichen können, was Männer erreichen.

Viele Untersuchungen sprechen dagegen.

Sie wollen trotzdem dran glauben, weil man eben nicht gern als Opfer wahrgenommen wird. Gleichzeitig nimmt die Gewalt an Frauen nicht ab. Im Gegenteil. Fatal ist, dass gerade in Westeuropa die Unterdrückung der Frau faktisch herkunftsbezogen diskutiert wird. Man sagt: In muslimischen Gemeinschaften gibt es sie, aber bei uns nicht. In dem Augenblick können sich selbst konservative Politiker als feministisch konstruieren. Da wird es dann wirklich absurd.

Sind Sie - und das wäre eine weitere Zuschreibung - eigentlich Feministin?

Für mich ist das eine politische Kategorie, und ich sage sie mit dem gleichen Risiko, wie ich sage: Ich bin Lesbe. Man kann bestimmte Dinge nicht analysieren, ohne die Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen. Etwa wird bezogen auf die Migrationsgeschichte in Deutschland immer angenommen, dass nur junge, körperlich fitte Männer hierher kamen. Das hat so aber nie gestimmt. Es sind auch viele Frauen migriert. Und schwule Männer. Ich habe mal bei Stollwerck, der Schokoladenfabrik, gearbeitet. Da waren mindestens 80 Prozent Gastarbeiterinnen an den Bändern. Sie haben auch mal einen wilden Streik angezettelt. So etwas taucht in der Forschung kaum auf. Daraus ergeben sich aber ganz andere Fragen nach den Gründen der Anwerbung, der Funktionalisierung von Arbeitskraft, der Ethnisierung und Vergeschlechtlichung des Arbeitsmarkts.

Sie sagten einmal, Sie seien auch eine queere Feministin. Was meinen Sie damit?

Die Queer-Theorie problematisiert die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und experimentiert sehr stark mit Uneindeutigkeit, ausgehend von Sexualität, Begehren, Begehrensökonomie zwar, aber nicht nur. Das fand ich schon immer sehr spannend. Uneindeutigkeit unterläuft Macht und Herrschaftsprinzipien. Dies strategisch herauszuarbeiten, darum geht es mir.

Utopieforschung machen Sie auch. Sie sagen, alle Aufbruchsbewegungen basieren darauf, dass das Bestehende infrage gestellt und utopisch weiterentwickelt wird. Ist damit immer eine positive Entwicklung verbunden?

Kommt darauf an, was Sie mit positiv meinen. Es geht nicht darum, dass alles stetig besser wird. Utopisch denken bedeutet, ein anderes sich vorstellen zu können. Eine andere Gesellschaftsstruktur. Ernst Bloch, ein wichtiger Philosoph, sagte: Man muss eine Hoffnung haben, aber Hoffnung muss enttäuscht werden. Sonst scheitert die Utopie, die eng verknüpft ist mit dem Willen zur Veränderung. Sich gar keine Veränderungen vorzustellen, das können sich nur die leisten, die am meisten vom So-wie-es-ist profitieren. Und einige Leute können sich nie zurücklehnen und sagen, ist doch gut, wie es ist. Das wird transparent, wenn man sich mit Utopien beschäftigt.

Zurück zum Christopher Street Day. Der findet in diesem Jahr zum 30. Mal in Berlin statt. Hat er noch utopisches Potenzial?

Hatte er je utopisches Potenzial? Er hat auf der symbolischen Ebene eine wichtige Bedeutung. Wobei es sich natürlich bei der Party, die zudem Allianzen mit neoliberalen Akteuren in Politik und Wirtschaft nicht scheut, wohl um eine besondere Form von Symbolik handelt.

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