Barcelona in Wolfsburg

PSEUDO-MIES Der Wolfsburger Nachkriegsarchitektur fehlt die strukturelle Raffinesse eines Mies van der Rohe, der Tragstützen, Wandscheiben und ein schwebendes Dach voneinander trennte

Im Stil von Mies van der Rohe: Büro in Wolfsburg Foto: Wiebke Elzel und Jana Müller, Verwaltung Naturstein Billen

Der Architekt Mies van der Rohe (1886-1969) gehört zu den Heroen der modernen Architektur in Deutschland und, seit seiner Emigration in die USA im Jahr 1938, des amerikanischen Funktionalismus. Zu seinen Bewunderern zählte auch der Braunschweiger Architekt und Hochschullehrer Friedrich Wilhelm Kraemer (1907-1990), der 1954 der TH Braunschweig vorschlug, Mies van der Rohe die Ehrendoktorwürde anzutragen.

Dieser willigte überraschend ein, so dass der Professor nebst Gattin und sechs Mitarbeitern am 1. November 1955 in der Super Constellation G der Deutschen Lufthansa aufbrach, die Auszeichnung persönlich in Chicago zu überbringen. Die Reisekosten seiner Mitarbeiter ließ Kraemer von Sponsoren begleichen, vermutlich kamen so zahlungskräftige weitere Mitreisende an Bord. Denn die Überlieferung will, dass auch der Wolfsburger Unternehmer Johann Tillmann Billen dabei war. Dessen Firma Naturstein Billen hatte mit der Stadtgründung 1938 einen Zweigsitz ihres Kölner Unternehmens in Wolfsburg aufgeschlagen, war nach Ausbombung in Köln hier ansässig.

Auch Mies van der Rohe entstammte einer rheinländischen Steinmetzfamilie. Sein Faible und sein Talent fürs teure Natursteinwerk offenbarten sich spätestens 1929, im deutschen Pavillon der Weltausstellung in Barcelona: ein wahrer Rausch aus goldenem Onyx, grünem Serpentinit und beige-fahlem Travertin, seitdem die Baukultur-Ikone der bettelarmen Weimarer Republik.

Die persönliche Begegnung hinterließ ganz offensichtlich einen tiefen Eindruck. Denn als Billen 1959 einen Büropavillon mit Kundenempfang und Sitzungsraum beauftragte, entwarf sein Architekt Rudolf R. Gerdes ihm eine flache, luftige Anlage um ein begrüntes Atrium, ganz im Flair des Vorbilds aus Barcelona. War man in den 1950er Jahren ohnehin nicht abgeneigt, Anleihen bei den unverdächtigen 20ern zu tätigen, so schien ein Miesianisch verschwenderischer Natursteineinsatz zudem die naheliegende Referenz fürs eigene Gewerk.

Gerdes kam aus der sogenannten Kraemer-Schule, ob auch er bei der Chicago-Reise dabei war, ist nicht bekannt. Viel Glas prägt die Fassaden des Pavillons, eine Freitreppe lässt den Besucher ins erhöhte Erdgeschoss schweben. Hier empfängt ihn gleich die grün marmorierte Natursteinwand, ganz unverkennbar ein Zitat des großen Vorbilds. Der Fußboden ist mit hellen Marmorplatten belegt, das Chefbüro mit Travertin ausgekleidet. Um die Hommage zu vervollständigen, legte Billen einen großen unifarbenen Teppich in die Eingangshalle, auf ihm ein Paar Barcelona-Chairs und zwei passende Hocker. Heinrich Heidersberger, Chronist der Wolfsburger Nachkriegsmoderne, verdichtete das Innere und Äußere zu wohlinszenierten Fotografien.

Viel Glas prägt die Fassaden des Pavillons, eine Freitreppe lässt den Besucher ins erhöhte Erdgeschoss schweben

Sicherlich, die architektonischen Anleihen blieben in Wolfsburg formaler Art. Ihnen fehlt die strukturelle Raffinesse eines Mies van der Rohe, der Tragstützen, Wandscheiben und schwebendes Dach voneinander trennte. Gleichwohl entstand ein originelles, sehr persönliches Stück Nachkriegsarchitektur, das nach Insolvenz, Verwahrlosung und Abrissbedrohung seit 2013 unter Denkmalschutz steht. Ein Ensemble neuer Verwaltungsgebäude soll es integrieren.

Bettina Maria Brosowsky