Der Himmel der Enttäuschten

HINTER MAUERN Gefangene der JVA Heidering proben den „Hauptmann von Köpenick“. Schon vorab istdie neue Inszenierung des AufBruch Gefängnistheaters für sie eine Grenzerfahrung, die den Gang verändert

Die Zellen der JVA Heidering lassen erahnen, welch Aufbruch Theater hier sein kann – demnächst „Der Hauptmann von Köpenick“ Foto: Marc Tirl/dpa

von Tom Mustroph

Mitten in der märkischen Heide südlich von Berlin erheben sich große graue Mauern. Sie umfassen die JVA Heidering, eine der jüngsten und modernsten Haft­anstalten Europas. Das Gefängnistheater AufBruch inszeniert an diesem Ort zum zweiten Mal. Das Eingangsgebäude und der im Grünen angelegte Parkplatz davor wecken den Eindruck eines mittelständischen Betriebs, der sich wegen der Nähe zur Autobahn hier niedergelassen hat.

Die goldene Figur, die auf einem großen runden Gerüst vor der Einfahrt steht, lässt gar an einen Firmengründer denken, der es mit der Kultur hält und im Inneren seinen Angestellten zur Abwechslung auch Kickerautomaten und Trimm-dich-Geräte bereitstellt.

Die gibt es tatsächlich, stellt sich später heraus. Die Insassen der JVA können auch auf einer verglasten Magistrale zwischen Wohn- und Arbeitskomplexen flanieren, deren transparente Leichtigkeit selbst der Google-Zentrale in Mountain View zur Ehre gereicht hätte. Im Unterschied zu einer auf gute Laune gebürsteten Programmiererfarm dürfen die Insassen hier das Areal nach Schichtende aber nicht verlassen.

Tagsüber arbeiten viele der aktuell 582 Männer in einer der großen Werkhallen. „Tischdecken für Lidl stellen wir her und entgraten Stoßstangen für Mercedes“, erzählt Tatar Ramazan, ein bärtiger großer Kerl, der einen Mitgefangenen auch gleich als einen „Mann von Mercedes“ vorstellt.

Für die Marke mit dem Stern zu arbeiten sorgt offenbar für Renommee, selbst wenn sich mancher der Insassen von seiner Beute einen ganzen Parkplatz an Luxuskarossen leisten könnte. Der größte Coup eines der Gefangenen soll 28 Millionen Euro erbracht haben, sagt einer, der sich für die Theateraufführung des „Hauptmanns von Köpenick“ in der JVA den Künstlernamen Montechristo verpasst hat.

Den meisten allerdings geht es eher wie dem originalen Hauptmann von Köpenick, dem Schuster Wilhelm Voigt. Der hatte im Preußen des frühen 20. Jahrhunderts sehr karge Einkünfte. Zeiten der Arbeitslosigkeit wechselten mit Haftzeiten. Hinter Gittern konnte er zwar arbeiten, viel Geld kam aber nicht zusammen.

Gut einhundert Jahre später ein ähnliches Bild. Fürs Entgraten der Stoßstangen erhalten die Männer einen Stundenlohn von 1,30 Euro. „Mindestlohn gibt es hier nicht“, sagt Tatar. Ursache dafür ist das Häftlingsgesetz, das die Bezahlung deckelt. „Vor der Wiedervereinigung gab es den Versuch, Tariflohn im geschlossenen Vollzug gesetzlich zu verankern. Das war aber politisch nicht durchsetzbar“, erinnert sich jemand vom Personal. Aktuell fordert die Gefangenengewerkschaft GG den Mindestlohn. Ein Lichtblick in eine bessere Zukunft.

In die Gegenwart passt gut der Chorgesang, den das schwarz kostümierte Ensemble vor der grausilbrigen Wand der Werkhallen während einer Probe intoniert: „Halben Weges zwischen Nacht und Morgen / nackt und frierend zwischen dem Gestein / wird der Himmel der Enttäuschten sein.“ Eine gehörige Portion Drohung steckt darin. Bertolt Brecht, dem Autor dieses „Himmel der Enttäuschten“, hätte es vermutlich gefallen.

Fürs Entgraten der Stoßstangen erhalten sie einen Stundenlohn von 1,30 Euro

Auch Regisseur Peter Atanassow,der seit vielen Jahren mit dem AufBruch Gefängnistheater arbeitet, wirkt angesichts der Geschlossenheit des Chores zufrieden. Chorisches Sprechen gehört zu seinen bewährten Stilmitteln. Zitate von Brecht oder Heiner Müller bringt er wegen der Klarheit der Aussagen gern in seine Inszenierungen ein.

Für die Gefangenen bedeutet die Theaterarbeit vor allem Abwechslung. Die Proben verändern auch ihre Körpersprache. Kamen einige noch müde und bedrückt an, so wurden durch das Theaterspielen die Blicke freier, der Gang aufrechter, die Haltung selbstbewusster.

Der goldenen Figur draußen vor dem Eingang würde das gefallen. Das Künstlerpaar Corbinian Böhm & Michael Gruber stellte sie im Rahmen von Kunst am Bau mit dem Anliegen auf, über den Knast hinaus zu schauen. Ursprünglich sollte sich die Figur durch ein Windrad sogar drehen und über einer Kamera Bilder aus ihrer Perspektive ins Knastinnere übertragen werden. Das Geld reichte dann nicht für das Windrad.

Immerhin sind nun aber Panoramafotos vom Heideumland im Gefängnis. Weil die stillgestellte Figur in Richtung Berlin blickt, ist sie für die Beamten das logische Pendant zur Goldelse am Großen Stern. „Goldenen Ernst“ nennen sie ihn hier. An ihm muss automatisch vorbei, wer zu den Vorstellungen des „Hauptmanns von Köpenick“ kommt.

Aufführungen 9.–11. und 16.–18. September, 18 Uhr, Justizvollzugsanstalt Heidering, Ernst-Stargardt-Allee 1, 14979 Großbeeren. Letzter Einlass 17.30 Uhr, Karten über die Volksbühne Berlin und das Bücherhaus Ebel, Großbeeren, Eintritt: 14, erm.9 Euro