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HOMO OECONOMICUS Wendy Brown legt eine scharfsinnige Analyse des neuen Menschen vor

Wendy Brown: „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“. Suhrkamp, Berlin 2015, 330 S., 29,95 Euro

Für den klassischen Liberalismus war das Bild des Menschen bevölkert von einem Wesen mit Bedürfnissen, die durch den Tauschhandel befriedigt werden. Wir kommen alle zum Markt, um anzubieten, was wir haben, seien es Waren oder Arbeit, im Austausch für das, was wir brauchen.

Im Gegensatz dazu kommt der neoliberale Mensch als Unternehmer seiner selbst zum Markt, als ein Wesen, das für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle. Ob er verkauft, herstellt oder konsumiert, er investiert in sich selbst und produziert seine eigene Befriedigung.

„Der Wettbewerb, und nicht der Austausch, strukturiert die Beziehung zwischen Kapitalien, und die Wertsteigerung die Beziehung jeder Kapitalentität zu sich selbst“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown aus Berkeley in einem der zentralen Sätze ihrer Studie „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“.

Es sind also die Vektoren Wettbewerb und Wachstum, die allein das ökonomische Leben bestimmen. Damit stellt der Neoliberalismus die Ökonomie in einen krassen Gegensatz zu den Bestimmungen des ökonomischen Lebens, wie sie der klassische Liberalismus oder auch Karl Marx vornahmen.

War für Adam Smith, den Klassiker des Liberalismus, das ökonomische Leben grundlegend durch die Arbeitsteilung und den Tauschhandel charakterisiert, so kennt der Neoliberalismus im Grunde diese Beziehungen nicht mehr.

Der Markt lässt sich für neoliberale Theoretiker am besten definieren, indem man ihn als eine Veranstaltung großer und kleiner Kapitaleinheiten versteht. Als einen Schauplatz, auf dem die Subjekte, die Marktteilnehmer, gezwungen sind, verantwortliche Investoren in sich selbst und Versorger ihrer selbst zu werden.

Und damit unterscheidet sich der Neoliberalismus extrem vom klassischen Wirtschaftsliberalismus. Eine „unsichtbare Hand“, die bei Adam Smith ein gemeinschaftliches Gut aus individuellen, eigennützigen Handlungen formte, gibt es nicht mehr. Der Neoliberalismus verzichtet auf jede Form der Naturalisierung.

Sein Homo oeconimicus muss gemacht werden. Er wird nicht geboren und muss in einem Kontext voller Risiken, Zufälligkeiten und möglicherweise heftigen Änderungen operieren, von geplatzten Blasen und Kapital- oder Währungsschmelzen bis zur Auflösung ganzer Industrien.

Kurz gesagt: „Anstatt dass jedes Individuum sein eigenes Interesse verfolgt und nichts­ahnend einen kollektiven Nutzen erzeugt, ist es heute das Projekt des makroökonomischen Wachstums und der Förderung der Kreditwürdigkeit, worauf die neoliberalen Individuen eingeschworen werden und womit ihre Existenz als Humankapital übereinstimmen muss, wenn sie gedeihen wollen.“

Und es ist einer der bemerkenswertesten Aspekte von Browns Analyse des Sieges der neoliberalen Menschenproduktion, dass der Begriffs des Interesses zu einem subversiven Begriff wird. Denn der neoliberale Mensch soll keine Interessen mehr haben, ebenso wie er keine Ideen mehr haben soll. Er soll vor allem kreditwürdig und wettbewerbsfähig sein.

Zwei Prozesse, die absolut nichts mit der sogenannten Natur des Menschen zu tun haben, auf die der alte Liberalismus so viel Wert legte. Der Drang zum Wettbewerb muss täglich neu induziert werden. Er kann nur von außen kommen, aus der täglich neuen Konstruktion des neuen Menschen des neuen Marktes. Cord Riechelmann