Flüchtlinge

Seit einer Woche fangen türkische Sicherheitskräfte Migranten an den Stränden ab, bevor sie in die Boote nach Europa steigen

Die Flüchtlinge haben Kleidung, Rucksäcke, Kinderspielzeug und Bücher an der türkischen Küste liegen gelassen – und auch diese Brieftasche mit dem Foto eines Kindes Fotos: Nejla Osseiran

Gespenstische Ruhe

Türkei An dem Teil der anatolischen Küste, von dem aus in diesem Jahr über 400.000 Menschen in Richtung EU gestartet sind, ist mittlerweile kein Flüchtling mehr zu sehen. Die Aufnahmelager im Land sind überfüllt

Aus Ayvacik Jürgen Gottschlich

Ein Anblick wie nach einer Naturkatastrophe: Überall liegen Kleidungsstücke im nassen Sand, leere Rücksäcke und aufgeschlitzte, teilweise verbrannte Schlauchboote säumen den Strand. In den Olivenhainen dahinter, die sich hier überall hügelaufwärts hinziehen, finden sich die Hinterlassenschaften Tausender Flüchtlinge: provisorische Lager aus großen Kartons in denen die Schlauchboote durch die Olivenhügel ans Ufer geschleppt worden waren, immer wieder Kleidung und Rucksäcke, aber auch Kinderspielzeug, Bücher und selbst eine leere Brieftasche in der noch das Foto eines geliebten Kindes steckt.

Alles sieht nach einem überstürzten Aufbruch aus, doch Mehmet, der hier als Wächter für mehrere Sommerhäuser die Stellung hält, zuckt nur mit den Schultern: „Das sieht doch schon seit Wochen so aus. Die Flüchtlinge lassen alles da, was sie nicht mitnehmen können.“

Doch anders als noch vor einer Woche ist der Strand nun total leer. Nicht ein Flüchtling weit und breit, auch auf den kleinen Wegen die von der Hauptstraße zum Strand hinunter führen ist alles geradezu gespenstisch ruhig. Wo noch vor einer Woche zwischen Babakale und Assos (siehe Karte) jeden Tag mehr als tausend Menschen auf die nahe griechische Insel Lesbos übersetzten, herrscht nun gähnende Leere.

Mehmet will nicht so richtig mit der Sprache herausrücken was hier eigentlich seit einigen Tagen anders ist – und das hat einen guten Grund. Kaum haben wir den Strand erreicht, erscheint eine Gruppe „Jandarma“, die militärische Polizeieinheit in der Türkei, die für den Grenzschutz zuständig ist. Der Kommandant will wissen was wir hier machen. Misstrauisch kontrollieren sie die Ausweise. Auskunft geben wollen sie nicht, wir sollen möglichst schnell verschwinden, alles sei wie immer.

Dass das ganz und gar nicht stimmt, bestätigt dann eine Anwohnerin, die in einem der Häuser am Strand lebt. „Endlich, endlich ist der ganze Spuk vorbei“, sagt sie. „Tag und Nacht hausten hier den ganzen Sommer über Tausende Flüchtlinge. Sogar in unseren Garten kamen sie. Wir mussten ständig alle Türen und Fenster verschließen. Die Polizei hat nichts getan – aber das hat sich ja nun geändert – endlich“, sagt sie offensichtlich tief befriedigt. „Jetzt wird aufgeräumt. Ich hoffe diese ganzen illegalen Flüchtlinge und die bewaffneten Schmuggler die hier seit Monaten ihr Unwesen trieben, sehen wir nie wieder.“ Ihren Namen will die Frau nicht nennen: aus Angst vor den Schmugglern falls die doch noch mal hierher zurückkommen.

Was die Anwohnerin erzählt, stützt sich auf folgende Fakten. Seit einer Woche, praktisch unmittelbar nach Abschluss des Gipfels zwischen der EU und der Türkei, bei dem vereinbart worden war, dass die Türkei den weiteren Zuzug von Flüchtlingen nach Europa stoppt und dafür drei Milliarden Euro erhält, treten Jandarma und Küstenwache in Aktion. Rund 300 Soldaten sind seitdem allein in dem Küstenanschnitt gegenüber Lesbos im Einsatz und haben bereits mehr als 5.000 Flüchtlinge abgefangen.

Wo in diesem Jahr bereits über 400.000 Menschen in Richtung Europäische Union gestartet sind, schaffen es seit einer Woche vielleicht gerade noch ein oder zwei Boote am Tag, überhaupt in See zu stechen. Schon am letzten Dienstag, zwei Tagen nach dem EU-Türkei Gipfel, zeigte das türkische Fernsehen Bilder, auf denen Soldaten Flüchtlinge in langen Reihen abführten. Freiwillige europäische Helfer auf Lesbos, die seit Monaten dort als erste die Flüchtlinge in Empfang genommen hatten, bestätigen am Telefon: „Wir haben hier nichts mehr zu tun. Es kommt kaum noch jemand.“

Etwa 20 Kilometer von den Stränden entfernt liegt die Kleinstadt Ayvacik. Am Stadtrand befindet sich ein sogenanntes Rückführungszentrum für Flüchtlinge. An einer stark befahrenen Überlandstraße stehen hier von hohen Zäunen und Stacheldraht umgeben ein paar einstöckige Baracken, in denen nach offiziellen Angaben 85 Personen vorübergehend Platz finden können. So leer die Strände sind, so voll sind nun diese Baracken. Alle am Strand aufgegriffenen Flüchtlinge werden von der Jandarma hier abgeliefert. Das Betreten des Camps ist verboten, kaum steigt man am Parkplatz aus dem Auto kommt bereits ein Sicherheitsmann angelaufen.

Trotzdem war es möglich mit den eingesperrten Flüchtlingen durch Gitter und Zäune hindurch ein paar Worte wechseln. „Wir haben Hunger“, rufen einige. „Holt uns hier raus, wir sind schon seit zehn Tagen hier“, rufen andere. Das Auffanglager scheint völlig überlastet, statt 85 Menschen sind wohl um die 500 hinter den Zäunen eingepfercht.

„Die Situation in Ayvacik ist katastrophal“, bestätigt Leyla Yavuz später. Sie arbeitet im IHD, dem Menschenrechtsverein in Canakkale, der Großstadt an den Dardanellen zu deren Zuständigkeitsbereich Ayvacik gehört. Yavuz und andere ehrenamtliche Helfer des IHD sammeln Kleidung, Medikamente und Lebensmittel, die sie dann von Canakkale nach Ayvacik bringen und am Tor des Camps abliefern. „Wir dürfen auch nicht rein und mit den Flüchtlingen reden, aber zwei SozialarbeiterInnen, die dort arbeiten, bemühen sich sehr um die Leute“, berichtet Leyla. „Früher waren nicht viele Leute in dem Camp“ erzählen die anderen IHD Mitarbeiter, doch seit die Jandarma jetzt durchgreift, kommen Tausende dort durch.

Die meisten Neuankömmlinge werden allerdings gleich weiter geschickt. Fast stündlich verlassen große Reisebusse das Camp in Ayvacik und bringen Flüchtlinge weg von der Grenze zurück nach Istanbul oder in andere Städte der Türkei.

„Alle die einen Pass oder andere Ausweispapiere haben, bekommen einen Schein auf dem steht, sie müssen die Türkei innerhalb von vier Wochen verlassen“, erzählt Leyla Yavuz. „Natürlich nicht nach Europa sondern zurück nach Syrien, Irak oder Iran.“ Fast alle von ihnen werden in der Türkei untertauchen.

Kurz bevor es dunkel wird, taucht doch noch ein Schlauchboot auf der Meerenge zwischen der türkischen Küste und Lesbos auf. „Die sind uns entwischt“, bestätigt einer der Soldaten.