Klage gegen Bayer: Fatale Nebenwirkungen

Felicitas Rohrer klagt gegen den Pharmakonzern. Sie nahm die Antibabypille Yasminelle und wäre deswegen beinahe gestorben. Sie ist kein Einzelfall.

Felicitas Rohrer mit einer Schachtel Tabletten

Felicitas Rohrer, in der Hand die angebrochene Pillenpackung. Foto: Christoph Breithaupt

FREIBURG taz | Auf dem Tisch wirkt der kleine, nur acht Zentimeter lange Blister wie der Ausschnitt aus einem großen Plan. Auf der Folie, hinter der die eingeschweißten Pillen verpackt sind, stehen die sieben Wochentage, eine Linie zieht sich durch, verbindet vier Wochen wie 28 Stationen eines Weges. Es ist der Plan für einen Monat, Teil eines größeren Puzzles aus solchen Streifen, der sich zu einem ganzen Lebensentwurf zusammenfügte. An Tag drei, einem Samstag, bricht die Linie ab, die Pille wurde nicht durch die Alufolie gedrückt.

Dieser dritte Tag war ausweislich des Blisters ein Samstag. Felicitas Rohrers Plan nahm an diesem dritten Tag des neuen Zyklus eine dramatische Wende. Sie erinnert sich noch daran, wie sie im Schockraum der Universitätsklinik lag und es höchst merkwürdig fand, dass ihr ein fremder Mann den BH mit einer Schere aufschnitt und vom Körper riss. „Komisch, dass ich dieses Bild noch vor Augen habe und auch das Gefühl, das ich dabei hatte“, sagt sie sechs Jahre später.

Dass er ihr anschließend den Brustkorb öffnete, bekam sie nicht mehr mit. Aber sie weiß, dass er ihr damit das Leben rettete. Sie sagt, sie werde ihm das nie vergessen. Dann muss sie eine Pause einlegen in der Schilderung dessen, was am 11. Juni 2009, passierte. Später wird sie sagen, sie könne seit diesem Tag den Tod spüren, wenn er neben sie tritt.

Sie will sich sammeln; was vor ihr liegt, erfordert Nüchternheit und Disziplin. Denn Felicitas Rohrer, heute 31, hat sich mit einem mächtigen Gegner angelegt, dem jede Sentimentalität abgeht. Außerdem hat der Chemiekonzern Bayer gute Anwälte. Also sammelt sich die junge Frau mit den blonden Locken, die von einem glitzernden Haarreif gebändigt werden. Sie schluckt kurz, zieht einen Zeigefinger unter dem Auge durch und gibt sich einen Ruck. Ihr Oberkörper richtet sich auf, geht in Kampfstellung.

Mächtiger Gegner

Es geht um Bayer, 119.000 Mitarbeiter, 42,2 Milliarden Euro Jahresumsatz, 8,8 Milliarden Euro Gewinn. „Bayer handelt als Corporate Citizen sozial und ethisch verantwortlich“, preist sich das Unternehmen auf seiner Website.

Genau das bezweifelt Felicitas Rohrer. Sie hat den Konzern aus Leverkusen auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt. Am 17. Dezember beginnt der Prozess vor dem Landgericht Waldshut. Es geht um die Frage, ob das Unternehmen die Risiken verschwiegen hat, die mit der Einnahme der Antibabypille der vierten Generation – Handelsname Yasminelle, Yasmine, Yaz – aus dem Hause Bayer verbunden sind. Es geht um Produkte mit dem Wirkstoff Drospirenon, der auch in anderen Pillen enthalten ist.

Felicitas Rohrer

„Wenn ich gewusst hätte, dass das Thromboserisiko doppelt so hoch ist wie bei herkömmlichen Pillen, hätte ich die nie genommen.“

Der Prozess führt unweigerlich zurück zu jenem 11. Juni 2009. Felicitas Rohrer hatte sich für einen Sprachtest angemeldet an der Uni in Freiburg, es war Samstag, kurz vor 9 Uhr. Sie ist pünktlich. Und sie ist zum Glück nicht allein. Ihr Freund begleitet sie. Er fängt sie auf, als sie auf dem Weg zur Toilette zusammensackt. Er setzt den Notruf ab.

Dann geht es ganz schnell: Notarzt, Rettungswagen, Ohnmacht, Uniklinik, umringt von Ärzten, Ohnmacht, Schockraum, Herzstillstand. In diesem Moment ist Felicitas Rohrer klinisch tot. Dass sie am nächsten Tag auf der Intensivstation eigenständig wieder die Augen öffnet, ist dem Einsatz der Ärzte, der Technik und sehr großem Glück zu verdanken. Vor allen Dingen, wie sie es überstanden hat. Denn wegen des vorübergehenden Herz- und Atemstillstands und der Unterversorgung des Gehirns befürchteten die Ärzte eine Schädigung des Hirns.

Immer gesund gelebt

Felicitas Rohrer ist fast ein wenig außer Atem gekommen, sie gönnt sich einen Moment Ruhe. Vor ihr liegt der angebrochene Pillenstreifen, dort bleiben die Augen hängen, an dem Schminkkästchen mit Spiegel, das Yasminelle-Kundinnen als Dreingabe bekamen.

Der Freude darüber, überlebt zu haben, folgt die Suche nach den Ursachen. Felicitas Rohrer hat nach eigenen Angaben sehr gesund gelebt, Sport getrieben, nicht geraucht. Sie hat sich im Nachhinein geärgert, dass ihr Hausarzt nicht hellhörig wurde, als sie von ihrer Kurzatmigkeit berichtete, von dem Druckschmerz im Brustraum, dem Ziehen im Bein, den Schwierigkeiten beim Luftholen. Sie wurde auf eine Rippenfellentzündung behandelt, nahm Antibiotika. Dabei hatte sich Wasser in ihrem Bauch eingelagert und in der Lunge, die Venen des linken Beines waren verstopft.

Felicitas Rohrer wusste, dass die Einnahme der Pille mit einem gewissen Thromboserisiko verbunden ist. Was sie nicht wusste: Das Risiko war bei ihrer Pille doppelt so hoch wie bei Pillen der älteren Generation. Sie war vom Gegenteil ausgegangen. Ihre Gleichung lautete: Vierte Generation gleich niedriger dosiert und besser verträglich.

Nicht allein damit

Felicitas Rohrer kann charmant und gewinnend lächeln. Und man kann dabei schnell die fast gnadenlose Hartnäckigkeit und Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber übersehen. Die wird sichtbar, als sie einem Anfangsverdacht nachgeht.

Der erste Schritt in diese Richtung folgte der Erkenntnis, dass sie nicht allein ist. Sie hat eine Website eingerichtet, inzwischen kann sie die Fälle von 478 jungen Frauen dokumentieren, die von Nebenwirkungen betroffen sind. Junge, zuvor gesunde Frauen mit Thrombosen, mit Lungenembolien, mit Schlaganfällen. Etliche konnten sich nicht mehr selbst registrieren – 16, weil sie tot sind, andere, wie Celine, eine junge Frau aus der Schweiz, weil sie seit einer beidseitigen Lungenembolie spastisch gelähmt und schwerbehindert sind. Celine sitzt im Rollstuhl. 16 war sie, als das passierte.

Sollte ein Bayer-Anwalt in dem Prozess weiter an der Theorie vom Einzelfall festhalten, wird Felicitas Rohrer ihm jeden einzelnen Namen vorlesen. So wie sie es seit Jahren auf der Hauptversammlung der Bayer-Aktionäre tut. Sie hat dort dank der Vereinigung der kritischen Aktionäre ein Rederecht. Sie kommt immer erst spät zu Wort, wenn die Aktionäre schon auf das Buffet warten. Die erfahren dann nebenbei, dass Bayer mit Yasminelle mehr umsetzt als mit dem Dauerläufer Aspirin – im Geschäftsjahr 2015 mehr als 800 Millionen Euro.

48 Seiten Beipackzettel

Schwieriger wird ein zweiter Nachweis. Felicitas Rohrer greift in das silberne Schminkkästchen, zieht zwei gefaltete Heftchen hervor: eine Produktbeschreibung und ein Beipackzettel, 48 Seiten lang. Der Beipackzettel stammt aus dem Jahr 2008. Das Erscheinungsdatum ist wichtig, denn die Neuauflage wurde überarbeitet. Unter „häufige Nebenwirkungen“ stehen Hinweise auf Stimmungsschwankungen, Akne und Kopfschmerzen, als „gelegentliche Nebenwirkungen“ sind zwischen Depressionen, Hautkribbeln, Fieberbläschen, Schlafstörungen und Schwellungen der Schleimhäute auch Thrombosen und Lungenembolien genannt. Und weiter unten, unter Risikofaktoren, wird erwähnt, dass Thrombosen „bei zunehmendem Alter“, „wenn Sie übergewichtig sind“, auftreten können. Außerdem erhöhten hoher Blutdruck, hohe Blutfettwerte und Diabetes das Risiko.

Felicitas Rohrer schüttelt den Kopf. „Nichts davon traf auf mich zu.“ Sie klingt empört, fassungslos, angriffslustig. Zu diesem Zeitpunkt, das weiß sie heute, gab es bereits eine Warnung des Bundesinstituts für Arzneimittel. „Wenn ich gewusst hätte, dass das Thromboserisiko doppelt so hoch ist wie bei herkömmlichen Pillen, ich hätte die niemals genommen.“

In der Tat ist schwer nachvollziehbar, weshalb eine Pille auf den Markt kommt, deren gewünschter Nutzen – die Verhütung – nicht größer ist als bei schon eingeführten Produkten. Der einzige Fortschritt sollte sein, dass sie nebenbei das Erscheinungsbild von Haut und Haaren verbessert und es zudem zu keiner Gewichtszunahme kommt. Das Produkt war zeitweise als Aknemittel auf dem Markt. Das Begleitheft verspricht der „lieben Yasminelle-Verwenderin“ einen „Smile-Effekt – du fühlst dich wohl in deiner Haut“, einen „Feel-Good-Effekt – verbessert dein körperliches und seelisches Befinden“ und einen „Figur-Bonus – hilft das Gewicht stabil zu halten“. Fazit: „Mit der Yasminelle kannst du das Leben und die Liebe so richtig genießen.“ Das zielt auf die junge Kundin, ganz besonders auf die Erstanwenderin. Genau die aber sollte diese Pille eher meiden.

Was versprochen wurde, passte zum Lebensplan von Felicitas Rohrer. Der sah etwa so aus: Kurzfristig wollte sie nicht schwanger werden, mittelfristig ihre berufliche Situation klären und langfristig eine Familie gründen. Wegen der beruflichen Perspektive für die nächsten Jahre war sie an jenem 11. Juli in Freiburg. Sie hatte ihr Studium der Tiermedizin gerade abgeschlossen und wollte noch einen Journalismusstudiengang anschließen, um dann beruflich Fuß fassen. Für später war fest die Gründung einer Familie vorgesehen.

Täglich der Lymphomat

Felicitas Rohrer lenkt die Aufmerksamkeit Ihres Besuchers mit ihrem Blick auf den Holzboden neben der Couch, wo ein blauer Gummianzug liegt mit Schläuchen, er gleicht einer Mischung aus Taucherkleidung und Anglermontur. „Ein Lymphomat“, sagt sie kühl. Keine junge Frau sieht gerne so ein Teil in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung liegen. Aber es ist eine Platzfrage. Einmal pro Tag muss sie in die Hosenbeine steigen, sich hinlegen und durchwalken lassen. Der Körper braucht Unterstützung von außen, weil die Venen nicht mehr elastisch sind und sich in den Lymphen Wasser staut. Aus diesem Grund kann sie auch keine feste Ganztagsstelle annehmen. Als Tierärztin wird sie wegen der körperlichen Belastung wohl nicht arbeiten können.

Auch in den USA gab es Todesfälle und schwere Erkrankungen, Bayer hat dort inzwischen 1,9 Milliarden Dollar bezahlt. Mehr als 10.000 Frauen hatten sich dort den Sammelklagen angeschlossen. Stets erfolgte die Einigung mit der Klägerin vor einem Urteil. So konnte Bayer immer verhindern, dass ein Gericht verbindlich festhalten konnte, dass der Wirkstoff Drospirenon für die schweren Zwischenfälle verantwortlich war. Obwohl es zahlreiche frühe Warnungen und Studien gab, obwohl die heutigen Beipackzettel das Thromboserisiko korrekt angeben – Bayer wehrt sich gegen die Feststellung, etwas gewusst und verschwiegen zu haben. Felicitas Rohrers Entschädigungsforderung wurde zurückgewiesen. Jetzt will sie es wissen. Auch weil „ich endlich einen Haken unter die Geschichte machen will“. Sofern das möglich ist.

Die Kinderfrage stellt sich derzeit nicht, zum einen ist die Beziehung über all den Turbulenzen zerbrochen, zum andern, weil Felicitas Rohrer blutverdünnende Mittel einnehmen muss. Das verträgt sich nicht mit einer Schwangerschaft. Sie weiß, was das bedeuten kann. „Die Sorglosigkeit ist weg.“ Der Satz steht lange im Raum, er hat nichts Kämpferisches an sich. Sie lebe heute stärker in den Momenten des Tages, langfristige Pläne sind unverbindlicher. Die Lampe im Flur in ihrer neuen Wohnung hat auch nach einem Jahr noch keinen Schirm.

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