König für einen Tag

Analphabetismus I Gerhard Prange ist Alkoholiker und Analphabet. Vor sechs Jahren tauschte er Bier gegen Buchstaben

„Mit dem Wort `dann´ hatte ich immer Probleme. Beim Schreiben.“ Gerhard Prange hebt seine rechte Hand und versucht etwas in der Luft zu formen. Er kann das Phänomen aber nicht erklären. „Neulich war ich stolz auf mich. Ich stand vorm Baumarkt und konnte ‚Bau-Stoff-Handel‘ lesen.“ Der 1,90-Mann sitzt in einem Berliner Café vor einer Fassbrause. Die anderen haben ein Pils vor sich, oder Weinschorle. Prange hat in den letzten sechs Jahren nur zwei Bier getrunken – „zum Glück nur im Traum. Als ich aufwachte, war ich schweißgebadet und dachte, ich muss mit allem wieder anfangen.“

Prange hat zwei Probleme: Er ist Alkoholiker und funktionaler Analphabet, kann also nur leichte Sätze lesen und schreiben. Vor sechs Jahren tauschte er den Alkohol gegen die Buchstaben. Er ging an einen Ort, vor dem er Angst hatte, so wie die meisten Analphabeten. Wegen des Kleingedruckten und der Buchstaben. Er wendete sich an den Mitarbeiter im Jobcenter: „Ich bin Alkoholiker, und kann nicht lesen und schreiben. Bitte helft mir.“ Der schickte ihn in den Alphabetisierungskurs. Neustart. Lesen lernen. Alkohol vergessen.

Gerhard Prange ist fast 60, und wohnt seit 50 Jahren in Reinickendorf. Auf der Sonderschule habe er nie richtig schreiben und lesen gelernt, genauso wie seine Eltern. In den 60er und 70er Jahren schickte man ihn jedes Jahr nach Schweden. Staatlich verordnete Erholung für die Ärmeren. Plötzlich stürzt es Schwedisch aus Prange heraus. Die quasi zweite Muttersprache. Sie bringt Erleichterung. Prange. Keiner mehr, der sich immer verkrampft. Wie so viele Analphabeten. In den Kursen lernt er nicht nur neue Wörter zu verstehen wie ‚Bau-Stoff-Handel‘, sondern auch, Scham zu verlieren, die Jahrzehnte seine Begleiterin war.

Analphabeten fürchten die öffentliche Bloßstellung, schließen sich im Restaurant der Bestellung des Nachbarn an. Die Speisekarte bleibt liegen. Vielleicht haben sie ja auch ihre Brille vergessen. „Als junger Mann liefen mir die Schweißperlen herunter, wenn ich eine Adresse finden musste.“ Prange konnte keine Klingelschilder lesen, stand vor verschlossenen Türen. Die Zeiten sind vorbei. Prange holt einen Schlüsselanhänger hervor. Daran ist der Satz angebracht, der alle Türen öffnet. Ein Satz, den er lesen kann. Auf Schwedisch: „Kung för en Dag“. König für einen Tag. Maximilian Perseke