Manischer Denkzwang

Apoll meets Dionysos: In seinen „Vierzehn Briefen über Drastik und Deutlichkeit“ stellt Dietmar Dath den großen Zusammenhang von Splatter, Porno, Metal und Liebe her: alles im Dienst der Aufklärung

Wie wir alle ist David jemand, der zu viel weiß und darüber seinen Halt verliert

VON ANDREAS MERKEL

Es könnte sich genauso gut um Pulp Fiction handeln. Furchtbare Dinge sind passiert, schlimme Verwerfungen, und Bruce Willis fragt irgendwann: Is this book okay? Woraufhin Ving Rhames nur noch müde antworten kann: This book is fucking far from being okay.

Damit sind gewissermaßen Grundgefühl und Ausgangssituation von Dietmar Daths „Vierzehn Briefen über Drastik“ umrissen: Es geht um den intellektuellen und emotionalen Ausnahmezustand, in den diese Welt jeden wirft, der sich auf sie einlässt. Und auf den die drastische Kunst mit Werken reagiert, die wiederum als Teil dieser Welt erst mal verkraftet werden müssen: Pornos, Splatterfilme, Black Metal. Genres, in denen der 1970 geborene Dath, einst Spex-Chefredakteur, heute FAZ-Feuilletonredakteur und Verfasser voluminöser Romane, als Experte gilt.

Für sein neues Werk hat er sich mit dem Briefeschreiber David ein Alter Ego mit ähnlicher Interessenlage geschaffen. Bereits in frühester Jugend hat David fasziniert und mit großem Erkenntnisgewinn all die scheinbaren Unterschichtenkünste mehr interpretiert als „konsumiert“ (wie das ansonsten vorwurfsvoll auf die entsprechende Klientel angewandt heißt). Und seitdem darunter gelitten, wie sehr er nicht nur vom linken „Justemilieu“ der Kulturredaktionen, sondern vor allem von seiner großen Jugendliebe Sonja dafür diskreditiert und angefeindet wurde: Wie kannst du dir bloß diesen Scheiß reinziehen!?

Jetzt wagt Daths David den großen Wurf. Vierzehn Briefe, alle an die unvergessene Sonja gerichtet, sollen es richten. In ihnen geht es um alles, und alles heißt für David: drastische Kunst und Sonja. Diese beiden Pole, das Dionysische und das Apollinische – die naturwissenschaftlich veranlagte Sonja hat es mittlerweile sogar zur Physikprofessur gebracht –, sollen nicht nur versöhnt, sondern zusammengedacht werden. Mitten im „Brief über Pornografie und Verträge“ kommt David zu der steilen These, dass Drastik „der ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage“ ist. Dass also Kunstwerken wie Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ oder satanischen Alben von Dimmu Borgir eine durchaus rationale Wahrheit innewohnt, die nur auf diesem Wege erfahrbar ist. Und dass man sich „die Arschlöcher eben nicht aussuchen“ kann, die einem die wichtigen Botschaften zufunken.

Für die Briefe bedeutet das: seitenlange Abhandlungen über „Matrix“ oder das Massaker in Littleton, wie man sie zum Teil schon in der FAZ gelesen hat und die mit einem detailversessenen Positivismus, der vor allem in den eigenen intellektuellen Aufwand verliebt scheint, den Leser an die Leine nehmen und in die Spur zwingen. Wohin diese führt, wird erst nach und nach klar, auf quälende, zunehmend aber auch spannende Weise.

Denn wie sieht sie eigentlich aus, die großartige Wahrheit, die angeblich nur auf drastischem Wege erfahrbar ist? Die Wahrheit sieht aus wie Sonja. Zum Beispiel als Mitschülerin, in die David sich verknallte, weil sie ihn auf dem Schulhof mal gefragt hat, was los ist, nachdem er gerade bei einer anderen abgeblitzt war (um all die hochfahrenden Briefbekenntnisse gleich wieder ein bisschen auf Schulhofpsychologie runterzukochen). Und die in der Folge als vernarbte Seele von ganz eigener Schönheit derart emporphilosophiert wird, dass dem Leser plötzlich von diesem Drive ganz schwindlig wird.

Je größer und stärker Davids Liebe wird, desto spröder, blasser und vor allem: undrastischer! erscheint dagegen Sonja, das leere Zentrum einer ganzen Jugend und dieses Buches. Auf einem Ehemaligentreffen Jahre später wird sie ihm vorschlagen, sich jetzt doch mal „wie Erwachsene“ zu unterhalten. Die Kluft zwischen Davids hochästhetischen Reflexionen und der seltsam hilflosen, stuckrad-barresken Liebesgeschichte könnte am Ende also nicht größer sein. Und es ist Dath nicht hoch genug anzurechnen, dass er diesen Abgrund entgegen seiner eigentlichen Schreibintention (Apoll meets Dionysos) nicht zukleistert, sondern seinen David sehenden Auges hineinstürzen lässt.

Mit dieser wiederum drastischen Aufrichtigkeit und Wucht schlägt das offenkundig autobiografische Buch den Leser in seinen Bann: Wie wir alle (wie es noch bei Christa Wolf geheißen hätte) ist David jemand, der zu viel weiß und darüber seinen Halt verliert. Die Folgen dieses tragischen Zu viel-Wissens bis hin zur Entschluss- und Entscheidungsunfähigkeit sind bei Dath dann eine Art umgekehrte Schreibblockade: ein manischer Zwang, einen Gedanken auf den anderen folgen zu lassen und bloß nicht aufzuhören, um nie festgelegt zu werden.

Im Fußnotenapparat zu den Briefen führt Dietmar Dath – der auf seinem Autorenfoto etwas grandios Dostojewskijhaftes verströmt! – denn auch einen rigorosen Kampf um Distanz zum (eigenen) Schreibansatz seiner Romanfigur, indem er etwa eine alte Schulfreundin zitiert: „Ja, der macht ja die unmöglichsten Verrenkungen in seinem Blatt da, ich weiß nicht wieso – frickelt an supergescheiten Sätzen rum, die gar nicht mehr aufhören, um möglichst viel linksradikale Konterbande unterzubringen, dabei hilft das keinem was. Bildungsbürger beeindrucken, so doof war der früher nicht. Ich glaube, der ist im Eimer, der schreibt nichts mehr, was auf den Punkt kommt, nur noch diese Fingerspiele mit roten Argumentfädchen. Hätte was werden können, mit mehr Askese. Diese panische Veröffentlicherei, dieser Erfolg, das hat ihn versaut, jetzt ist alles nur noch Kasperletheater. Total traurig eigentlich.“

Fucking far from being okay und total traurig eigentlich: Es gibt noch eine Szene aus einem anderen Film eines großen Drastikers, aus Martin Scorseses „Taxi Driver“, mit der sich Daths Buch und die Beziehung zwischen David und Sonja zusammenfassen lassen. Travis Bickle hat sein erstes Date mit Betsy, und Robert De Niro lädt Cybil Shepherd ausgerechnet in das Pornokino ein, das er immer aufsucht. Sie rennt sofort raus und er ihr hinterher: Was denn los sei, da kenne er aber noch ganz andere Filme!

So besteht am Ende kein Zweifel, ob diese Briefe ihr Ziel, Sonja, erreichen. Bloß dass man nicht mal mehr weiß, ob es andersherum besser wäre. Dietmar Dath hat und ist als Autor ein Problem. Aber es könnte das beste Problem sein, mit dem sich in diesem Bücherherbst auseinander zu setzen lohnt.

Dietmar Dath: „Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 215 Seiten, 19,90 €