Erdogans „Säuberungen“ in der Türkei: Schulverbot für kritische LehrerInnen

Die Massenentlassung vermeintlicher Regimegegner trifft auch LehrerInnen. In den kurdischen Gebieten herrscht deshalb Bildungsnotstand.

Lehrer protestieren in Diyarbakir mit einem Sitzstreik gegen ihre Entlassung.

An der Schule unerwüscht: entlassene Lehrer in Diyarbakir beim Sitzstreik (Archivbild von Sept 2016) Foto: dpa

DIYARBAKIR taz | „Vor unseren Augen wurde ein neunjähriges Mädchen erschossen und wir sollten einfach wegschauen. Das geht doch nicht!“ Hikmet Korkmaz ist auch Wochen später noch empört, wenn er darüber spricht. Er ist Lehrer, doch aus mehreren Gründen kann er nicht mehr unterrichten. Ein Grund ist, seine Schule gibt es nicht mehr.

„Meine Schule“, erzählt Hikmet, „lag in der Altstadt von Diyarbakır, dort, wo monatelang kurdische Jugendliche gegen die Armee kämpften. Die Schule existiert nicht mehr. Sie wurde abgerissen und an ihrer Stelle eine Polizeistation errichtet.“

Hikmet Korkmaz kann aber auch nicht an einer anderen Schule unterrichten. Er gehört zu den 4.314 Lehrern in Diyarbakır, die eine Woche vor dem Schulstart Ende September vom Bildungsministerium in Ankara auf einen Schlag suspendiert wurden. 4.314 Lehrer, das sind ein Viertel aller Lehrer an den öffentlichen Schulen in der Millionenmetropole Diyarbakır.

Die vom Dienst suspendierten Lehrer habe alle eins gemeinsam: Sie sind in der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen organisiert. Und sie haben sich, wie Hikmet Korkmaz, der über den Tod seiner Schülerin erschüttert war, Ende Dezember 2015 an einem eintägigen Ausstand beteiligt, mit dem sie für Frieden in ihrer Stadt demonstrieren wollten.

Hikmet Korkmaz, Deniz Özgür, Selahattin Alp und Faisal Korkmaz sind alle aus diesen beiden Gründen entlassen worden. Sie sind im Vorstand der Lehrergewerkschaft und fürchten, dass sie wohl zu denjenigen gehören werden, die ihren Job nicht wieder zurückbekommen. Landesweit sind in der Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli rund 50.000 LehrerInnen suspendiert oder entlassen worden.

30.000 Pädagogen entlassen

Zunächst ging es dabei um Lehrer, die in Privatschulen oder -unis der Gülen-Bewegung unterrichtet haben. Alle diese Einrichtungen wurden geschlossen, Lehrer, Dozenten und Professoren auf die Straße gesetzt. Etliche wurden auch als Putsch-Unterstützer festgenommen – oder weil sie gegen die Entlassung ihrer Kollegen protestierten. Rund 30.000 Pädagogen verloren ihren Job.

Wer gegen die Massenentlassungen protestiert, wird verhaftet. Das stellt die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen vor ein Dilemma

Im zweiten Schritt ging es dann gegen kritische Lehrer insgesamt, vor allem solche, die in der linken Lehrergewerkschaft Eğitim Sen organisiert sind. Im September verkündete das Bildungsministerium die Suspendierung von 11.500 Lehrern in den kurdischen Gebieten. Die 4.314 Lehrer in Diyarbakır waren Teil dieser Entlassungswelle. Obwohl es offiziell keine Begründung für die Entlassungen gibt, ist klar, dass ihnen allen erst einmal pauschal Sympathie für die kurdische Guerilla PKK unterstellt wird.

Die Auswirkung dieser Massenentlassung sind katastrophal. „In Diyarbakır“, erzählt Selahattin Alp, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Eğitim Sen, „ist die Klassenstärke von 35 auf 55 Schüler angestiegen.“ Im Durchschnitt. „In der Klasse meiner Tochter drängen sich über 60 Kinder“, sagt Deniz Özgür, „und das ist keine Seltenheit“. An manchen Schulen wurden von 60 Lehrern 40 suspendiert.

Der Staat versucht nun, den Unterricht mit Ersatzlehrern aufrechtzuhalten, die oft keine richtige pädagogische Ausbildung haben oder fachfremd unterrichten. Diese Ersatzlehrer kommen gerade von der Universität oder sind Uni-Absolventen, die jetzt ohne Erfahrung in einen Schuljob rutschen. Trotzdem, sagt Hikmet Korkmaz, seien viele Unterrichtsstunden nicht abgedeckt und gehen viele Kinder gar nicht mehr zur Schule.

Protest bleibt aus

„Anfangs haben die Eltern protestiert“, erzählen die entlassenen Lehrer, „doch die Polizei hat hart darauf reagiert. Wer sich an Demonstrationen vor Schulen beteiligte, wurde festgenommen.“ Auch Demonstrationen von Lehrern wurden mit Polizeigewalt beendet. „Jetzt traut sich niemand mehr auf die Straße“, sagt Deniz Özgür.

Die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen bringt das in ein großes Dilemma. Sollen sie weiter protestieren oder lieber versuchen, möglichst viele ihrer suspendierten Mitglieder wieder ins Amt zu bringen. „Der Staat testet jetzt, wie sich die Leute verhalten“, sagt Hikmet Korkmaz. „Wir wollen weiterhin Protestaktionen machen, doch den suspendierten Lehrern wird von den Schuldirektoren gesagt, wenn sie sich ruhig verhalten, wenn sie den Mund halten, werden sie in ein paar Monaten wiedereingestellt. Man will so die Aktivisten herausfiltern.“

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP-Regierung geht es aber nicht nur darum, einige Kritiker loszuwerden. Die Regierung nutzt die Phase nach dem Putschversuch und den Ausnahmezustand, um ein Projekt voranzutreiben, das ihr schon länger am Herzen liegt: „Wir wollen eine neue Generation gläubiger Muslime erziehen“, hatte Erdoğan schon vor mehreren Jahren als Maxime für die Bildungspolitik vorgegeben. Praktisch bedeutet das, die Regierung versucht nach und nach das säkulare Bildungssystem durch ein religiöses zu ersetzen.

Als Alternative religiöse Schulen

Mittel zum Zweck sind die sogenannten Imam-Hatip-Schulen, religiöse Schulen, die ursprünglich einmal dafür da waren, den Nachwuchs für Imame auszubilden, und die nun mehr und mehr als flächendeckende Alternative zu den normalen öffentlichen Schulen ausgebaut werden.

In Imam-Hatip-Schulen werden die Geschlechter getrennt und Mädchen müssen Kopftuch tragen. Religiöse Fächer nehmen einen großen Stellenwert ein, trotzdem erlaubt der Abschluss einer Imam-Hatip- Highschool den Besuch der Universität. Laufend eröffnet die AKP neue Imam-Hatip-Schulen oder wandelt existierende öffentliche Schulen in Imam-Hatip-Schulen um. So auch in Diyarbakır.

„In den letzten zehn Jahren“, erzählt der Gewerkschafter Faisal Korkmaz, „hat die Zahl der Imam-Hatip-Schulen in Diyarbakır dramatisch zugenommen. Waren es früher ungefähr zwei Prozent der Schulen, sind es heute 40 Prozent“. Die meisten Eltern wollen ihre Kinder nicht dorthin schicken, deshalb gibt es dort selbst heute, bei dem enormen Lehrermangel, Klassen, in denen nur zehn Kinder sitzen. Deniz Özgür war bis zu seiner Suspendierung als Lehrer für „Computer“ an einer Imam-Hatip-Schule angestellt. „In meiner Klasse gab es nur sieben Kinder“, erzählt er.

Der künstliche Lehrermangel und die daraus resultierende Überfüllung der normalen säkularen Schulen zwingt Eltern nach und nach, ihre Kinder doch zur Imam-Hatip-Schule zu schicken. „In ein paar Jahren“, befürchtet Hikmet Korkmaz, „werden sie das ganze Bildungssystem umgekrempelt haben.“

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