Irak

Nach ersten, schnellen Erfolgen steckt die Offensive von irakischer Regierungsarmee und kurdischen Kämpfern gegen den IS fest

„Ich werde die Erde küssen, wenn ich wieder zu Hause bin“

Mossul Anfangs freuten sich die Bewohner der vom „Islami-schen Staat“ besetzten Stadt auf ihre Befrei-ung. Doch nun wird die Lage für Zivilisten immer gefährlicher

Warten in Gogjali: Die Front in Mossul hat die Frau mit ihren Töchtern überquert. Aber was nun? Foto: Jan Grarup/laif

Aus Hassan Sham Inga Rogg

Als die Regierung des Irak die Befreiung von Mossul ankündigte, freute sich Umm Mohammed. „Am liebsten wäre ich durch die Straßen gelaufen und hätte Süßigkeiten verteilt“, sagt sie. Vor drei Wochen war es soweit: Soldaten einer irakischen Antiterroreinheit marschierten in Gogjali am östlichen Stadtrand ein. „Endlich“, sagte sich Umm Mohammed. „Der Albtraum ist vorbei.“

Über zwei Jahre lang hatte die siebenfache Mutter das Haus so gut wie nicht verlassen, um den Nachstellungen der Extremisten des „Islamischen Staats“ (IS) zu entgehen. „Von Kopf bis Fuß mussten wir uns schwarz verhüllen. Selbst das Gesicht mussten wir bedecken.“ Die Kinder schickte sie während der IS-Herrschaft nicht zur Schule, weil sie dort nur auf Krieg und Mord getrimmt wurden. „Jetzt begann ich wieder, von einem Leben in Freiheit zu träumen.“

Hohe Verluste

Doch die Freude über den Durchbruch der „Goldene Division“ genannten Antiterroreinheit dauerte nicht lange. Schon am nächsten Tag blies der IS zum Gegenangriff. „Von allen Seiten flogen Granaten und Raketen“, sagt Umm Mohammed. „Eine schlug direkt im Garten unseres Nachbars ein. Ich nahm meine Kinder und rannte so schnell ich konnte.“ Zusammen mit ihrer Mutter und drei weiteren Familien machte sich die zierliche Frau auf den Weg in Richtung Osten. Der kleine Zug duckte sich hinter Hauswänden, suchte Schutz in Gräben. „Überall wurde geschossen.“

Ein eisiger Wind bläst über die Zeltstadt nahe Hassan Sham, rund 35 Kilometer östlich von Mossul. Trotz Herbstsonne ist es kalt. Binnen weniger Minuten legt sich eine dünne Schicht aus Sand, den der Wind über die von Hügeln durchzogene Ebene treibt, in Ritzen und Poren. Hinter einer Art Vordach hockt Umm Mohammed vor einem Kerosinkocher und bereitet das Mittagessen zu. Eine ihrer Töchter steht am Eingang, damit der Wind nicht gegen die Plane schlägt. Es duftet nach Reis und frisch gekochten Tomaten. Noch immer trägt Umm Mohammed schwarz. Doch statt dem schwarzen Gesichtsschleier hat sie sich jetzt ein blaues Kopftuch umgebunden. „Wenn sie mich so sähen, würden sie mir das Leben zur Hölle machen“, sagt sie mit Blick auf die drakonischen Strafen des IS bei Verstößen gegen seine mittelalterlichen Gesetze.

Seit knapp sechs Wochen ist die Offensive zur Rückeroberung der zweitgrößten Stadt des Irak im Gang. Zu Beginn des Angriffs Mitte Oktober hatten US-amerikanische und irakische Vertreter noch gehofft, dass der IS zumindest den Ostteil der Millionenstadt am Tigris weitgehend kampflos aufgeben würde. So wie es die Extremisten im syrischen Jarablus oder Dabik getan hatten. Doch nach ersten, schnellen Erfolgen steckt die Offensive fest. Die Extremisten leisten erbittert Widerstand. Es droht ein Abnutzungskrieg, in dem die Radikalen ihre Gegner aus dem Hinterhalt mit Autobomben und Selbstmordattentätern attackieren. Die Verluste unter den irakischen und kurdischen Truppen sind hoch, genaue Zahlen dazu gibt aber keine Seite preis.

Je brutaler der Krieg wird, umso gefährlicher wird es für die Zivilbevölkerung. Selten haben die Zivilisten so viel Glück wie Mayada Ahmed aus einem Dorf nahe Mossul. Dessen Bewohner ließ der IS überraschenderweise gehen. „Flieht“, hätten die Extremisten gesagt. In einem Ort südlich der Stadt dagegen wurden nach Uno-Angaben Hunderte von Bewohnern als Geiseln genommen und nach Mossul verschleppt.

Zivilisten als Schutzschilde

Anderenorts missbrauchen IS-Kämpfer Zivilisten als Schutzschilde, um Luftangriffe der Amerikaner und ihrer Verbündeten zu verhindern. Zudem berichten Flüchtlinge immer wieder, sie seien auf der Flucht von IS-Scharfschützen beschossen worden. Gefahr droht freilich nicht nur von den Extremisten, sondern auch von den „Befreiern“. Immer häufiger müssten sie schwer verwundete Zivilisten behandeln, berichten Ärzte, die nahe der Front im Einsatz sind. Es gebe Tote.

Gleich zu Beginn der Offensive hätten Hilfsorganisationen die Kriegsparteien aufgefordert, Fluchtkorridore für Zivilisten einzurichten, sagt Becky Bakr Abdulla vom Norwegian Refugee Council (NRC). Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet sie, die Zivilbevölkerung zu schützen. „Doch Wochen später ist immer noch nichts passiert“, so Abdulla. Dabei zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Angreifer angesichts des heftigen IS-Widerstands zu immer härteren Methoden greifen, um die Extremisten in die Knie zu zwingen – und damit auch Zivilisten in Lebensgefahr bringen.

Schiitische Milizionäre haben nach eigenen Angaben am Mittwoch die Straßen von Westmossul zur syrischen Grenze unter ihre Kontrolle gebracht. Damit hätten sie eine wichtige Nachschubroute für die Extremisten gekappt – aber auch den Einwohnern der Westhälfte der Stadt den Fluchtweg abgeschnitten. Am gleichen Tag bombardierten alliierte Kampfjets die letzte noch intakte Brücken über den Tigris in Mossul.

Derweil versuchen Hilfsorganisationen unter Hochdruck neue Camps zu errichten. Knapp 70.000 Personen – die Hälfte davon Kinder – sind bereits vor den Kämpfen geflohen. Im Camp von Hassan Sham gebe es nur noch 80 freie Zelte, sagt Leiter Sadik Mohammed. In den beiden benachbarten Camps Khazir 1 und 2 sieht es nicht besser aus. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge, oft mit nichts als ihren Kleidern am Leib.

Ein Soldat der irakischen „Goldenen Division“ in Mossul Foto: Jan Grarup/laif

Dabei wird es jeden Tag kälter. „Wir müssen die Zelte dringend winterfest machen“, sagt Mohammed. Doch den Helfern fehlt es an Geld. Nur 65 Prozent der 284 Million Dollar, die die Uno und Hilfsorganisationen für die Versorgung der Vertriebenen von Mossul veranschlagt habe, seien bisher gedeckt, sagt Abdulla vom NRC. Nicht viel besser sieht es für den Irak insgesamt aus. Mehr als drei Millionen Bürger wurden durch den Krieg mit dem IS vertrieben. Selbst in Städten wie Ramadi, aus dem die Extremisten bereits vor knapp einem Jahr vertrieben wurden, können die Einwohner bis heute nicht zurück.

Misstrauen gegen Sunniten

Wer es nach Hassan Sham oder Khazir geschafft hat, ist erst einmal in Sicherheit. Doch vonseiten der Soldaten und der kurdischen Kämpfer schlägt den sunnitischen Flüchtlingen tiefes Misstrauen entgegen. Dabei ist die Grenze zwischen berechtigter Sorge, unter den Flüchtenden könnten sich IS-Kämpfer befinden und dem Generalverdacht gegen Männer im kampffähigen Alter, fließend. Für sie ist die Flucht deshalb besonders gefährlich. Menschenrechtsorganisationen werfen nicht nur dem IS, sondern auch dessen Gegnern schwere Verbrechen vor. In Dörfern südlich von Mossul hätten Mitglieder der paramilitärischen Bundespolizei mehrere Einwohner gefoltert und kaltblütig ermordet, heißt es in einem Bericht von Amnesty International.

Die alte Munifa Shammar, die im Camp Khazir Zuflucht gefunden hat, traf es gleich doppelt hart. Vor vierzig Tagen habe der IS einen ihrer Söhne verschleppt, erzählt sie. Und vor zwei Wochen hätten schiitische Milizionäre einen weiteren Sohn festgenommen. „Sie stülpten ihm einfach eine Maske über den Kopf und nahmen ihn mit“, sagt Shammar auf einen Stock gestützt. Eine andere Alte wirft ein, ihr hätten Milizionäre 80 Schafe gestohlen: „Am Abend gaben sie uns zu essen, aber am nächsten Tag nahmen sie mir meine Schafe.“ Human Rights Watch berichtete diese Woche über ähnliche Vorfälle.

Das brutale Morden des „Islamischen Staats“ hat den Hass, in dem von ethnischen und religiösen Konflikten zerfressenen Land noch verstärkt. Es sind Vorfälle wie diese, die die Furcht vor einer weiteren Welle der Rachemorde schüren. „Viel hängt davon ab, wie die Vertriebenen jetzt behandelt werden“, sagt NRC-Mitarbeiter Abdulla. Umm Mohammed will nicht klagen, sie ist froh, dass sie und ihre Familie heil dem Geschützfeuer entronnen sind. Jetzt hofft sie, dass sie so bald wie möglich wieder zurück nach Gogjali kann. „Ich werde die Erde küssen, wenn ich wieder zu Hause bin“, sagt sie und reißt die Arme in die Luft. Doch so schnell wird ihr Wunsch wohl nicht Erfüllung gehen: Die Schlacht um Mossul hat erst begonnen.