Dichter am Leben

LYRIK Um den Dichter in sich zu finden, brauchte Andreas Greve ein halbes Leben. Am Mittwoch liest er im Café Chavis aus seinen unveröffentlichten Gedichten

Dichtet, um zu überleben: Andreas Greve Foto: Arne Weychardt

von Robert Matthies

Ein Leben auf den Punkt bringen, dafür braucht Andreas Greve nicht mehr als 13 Zeilen. „Ein Mann, der lange nach sich suchte, / verstieg sich dabei ganz erheblich, / was er jedoch geschickt verbuchte: / ‚Ein Weg ist niemals ganz vergeblich.“ „Ich in sich“ heißt das Gedicht, in dem der Hamburger, so darf man es wohl lesen, die eigene Suche nach dem Dichter in sich verdichtet: „Als er sich nicht am Rande fand / und nirgends unter seinem Schuh / und oben auch nicht überstand, / wies er nicht gänzlich von der Hand: / ‚… dass ich in meiner Mitte ruh …‘“ Eine tragikomische Lebens-Odyssee also, immerhin mit Happy End. Und doch zugleich der Aufbruch zu einem noch viel größeren Abenteuer: „Soweit zum Ich. Jetzt auf zum Du!“

Auf Umwegen zum Dichten

Tatsächlich hat Andreas Greve ein halbes Jahrhundert lang nach sich gesucht – hat sich dabei auch mal ganz erheblich verstiegen –, bis er sich endlich zum Leben als Poet durchringen konnte. 1953 in Hamburg geboren und in Ottensen groß geworden, zog es ihn nach dem Abitur zum Kunstpädagogik-Studieren nach Braunschweig. In Lyon wollte Greve ein Gastsemester als Bildhauer machen – landete stattdessen aber in einem Zimmermannskollektiv auf der dänischen Insel Fünen. Zehn Jahre lebte er dort, lernte den Beruf und – selbst „absolut hierarchieuntauglich“ – die Widrigkeiten des Gemeinschaftslebens kennen. Und musste schließlich einsehen: „So praktisch bin ich doch nicht veranlagt.“

Aber ganz vergeblich war der Umweg eben doch nicht. Am dänischen Strand begann Greve nachzuholen, was im Studium zu kurz gekommen war: Er begann, Landschaften zu zeichnen – damals ganz verpönt, eine „Verbotszone“ wie auch das Dichten, sagt Greve – und fand dabei den Künstler in sich wieder. 1989 erschien sein erstes Buch, das Bilderbuch „Keine Fahrkarte für den Bären“, das er nicht nur schrieb, sondern auch selbst illustrierte. Etliche Kinderbücher folgten.

Lange hat Greve auch als Reisejournalist gearbeitet, auch das eher aus Zufall. „Reise in das Land der Sprachlosigkeit“ hieß einer seiner ersten Berichte von einer privaten Riese nach China, in dem er himmelschreiend komisch erzählte, wie aufgeschmissen er gewesen sei, weil er einfach nichts verstanden hatte.

Das Lachen über das eigene Fehl-am-Platze-Sein und der Mut zum Risiko, dass auch mal alles aus dem Ruder läuft, wurden zum Markenzeichen: Immer nahm sich Greve bei seinen Reiseberichten seine „kleine Reisefreiheit“ – so hieß seine Ru­brik damals in der Süddeutschen.

Auch zur Satire und zum Cartoon, der letzten Etappe vorm Dichterdasein, ist Greve nur durch einen Zufall gekommen. Eine kleine Kindergeschichte hatte er geschrieben und einer Verlegerin gezeigt. Die aber klärte ihn auf: nichts für Kinder sei das, sondern Satire. Für Greve ein Befreiungsschlag: viel leichter sei er nun „aus der Deckung“ gekommen, habe sich keine Form mehr aufzwingen müssen. Gemeinsam mit dem Wuppertaler Cartoonisten André Poloczek gründete er 2009 das Duo „Jünger & Schlanker“, das es zwei Jahre später immerhin zum vierten Platz beim „Deutschen Karikaturenpreis“ geschafft hatte.

Der Humor und die (Selbst-)Ironie: Auch beim Reimen sind sie heute Greves große Stärke. „Wer zuletzt lacht“ heißt folgerichtig die Rubrik, unter der sein Gedicht über die Suche nach dem „Ich im sich“ im kleinen Band „Dichter am Abgrund“ einsortiert ist. 2003 ist der im kleinen Braunschweiger Verlag „Hinz und Kunst“ erschienen: Greves Debüt als Dichter.

Bittersüß tragisch sind viele der Gedichte darin. Denn obwohl er die Grundvoraussetzung, etwas verkürzt und humorvoll zu sagen, schon in der Schule gehabt habe – „als Leiden und Last für andere“: Zu seiner Berufung, dem Dichten, ist Greve erst durch eine Lebenskrise gekommen, „eine richtig ernste Krise nach dem Motto: ‚Jetzt ist sowieso alles egal!‘“, erzählt er: „Da habe ich gemerkt, dass ich in dieser Situation, obwohl mir links und rechts alles um die Ohren flog, mit innerem Vergnügen Verse und Reime machte.“

Schreiben ist deshalb für Greve bis heute eine Überlebenstaktik: „immer Notwehr“. „Selbst wenn man völlig gesund ist und schreibt, ist man ja eher im Patientenbereich unterwegs“, sagt er, „irgendwas treibt einen ja immer“. Und: „Ich habe beim Schreiben teilweise fürchterliche Angst.“

Aber das Lachen vergeht Greve – und seinen Lesern – nie. „Meine Sachen sind immer irgendwie komisch“, sagt er. „Es geht immer darum, enorm viel auf kurzem Raum auszudrücken, ohne dass da ein Bleiriegel kommt. Es muss immer luftig sein, unmittelbar leicht.“

Zu seiner Berufung, dem Dichten, ist Greve erst durch eine Lebenskrise gekommen, „eine richtig ernste Krise“

Dichter am Menschen

Die Leichtigkeit ist es auch, die den Dichter heute ganz dicht an die Menschen, dichter ans Leben bringt: zum Alltagsdichter macht. „Ich bin relativ leicht im täglichen Umgang und durchaus kommunikativ“, sagt er. Seine Gedichte bringt er deshalb gleich höchstpersönlich zum Lyrik-Kunden. „Librette“ heißt das Lastenfahrrad mit Bücherkiste, mit dem er seit ein paar Jahren durch Hamburg radelt, auf Plätzen, in Cafés oder in Buchhandlungen „Lyrik to go“ anbietet.

Schnell habe er gemerkt, wie akzeptiert er als Straßendichter sei, dass seine Lyrik über alle Schicht- und sonstigen Grenzen hinweg ein Lächeln ins Gesicht zauberte. „Lyrik ist friedensstiftend“, sagt Greve lächelnd. Regelmäßig steht er mit seiner „Librette“ auf dem Isemarkt in Eppendorf, gehört als „kultureller Faktor“ dort längst zur Familie der Marktleute dazu.

„Es ist ja auch ein narzisstisch besetztes Berufsbild“, sagt Greve. „Das heißt, man will es ja nur irgendwo sagen und eine Reaktion kriegen. Statt dass man es nach einem irren Anlauf irgendwann nach 30 Jahren mal in Klagenfurt bekommt, kriege ich das jeden Tag. Die Rampensau kriegt ihr Futter, aber ich bekomme auch Feedback und Rückmeldungen, wo es gut ist und wo nicht“, sagt er.

Greves letzter Streich ist denn auch eine wilde Hommage an die Stadt aus der Perspektive des Alltagsdichters: Gemeinsam mit dem Maler und taz-Cartoonisten Til Mette und dem Grafiker Michel Löwenherz zeigt „Dichter an Hamburg“ die Stadt aus drei ganz unterschiedlichen und eigenwilligen Perspektiven. 55 „Reim-Reportagen“ porträtieren Stadtteile von Altona bis Wilhelmsburg. Greve dichtet, Til Mette malt – „alles außer Til Mette“, sagt Greve – und Löwenherz bastelt aus den Reimen und Bildern kleine zweiseitige Kunstwerke: keine Lobhudelei, sondern eine Sammlung kleiner Schlaglichter.

Greve liest aus „Dichter an Hamburg“, „Tausendundeine Elphi“ und aus unveröffentlichten Gedichten: Mi, 14. 12., 19 Uhr, Café Chavis, Detlev-Bremer-Straße 41