UN widersprechen Bundesregierung

Sicherheit Opferzahlen unter Zivilisten in Afghanistan erreichen eine Rekordhöhe. UN kennen keine sicheren Regionen

KABUL taz | Neue, schreckliche Rekorde bei der Zahl der zivilen Opfer des Krieges in Afghanistan vermeldet ein Bericht der Vereinten Nationen. 11.418 Zivilisten wurden demnach im ­vorigen Jahr getötet oder verletzt, so die UN-Mission in Afghanistan (Unama) in ihrem Jahresbericht zum „Schutz von Zivilisten im Krieg“, der am Montag in Kabul vorgestellt wurde.

In keinem Jahr seit 2009, als die UN diese Zählung begannen, waren es mehr. Zudem unterstreicht Unama, dass man möglicherweise „unterberichte“; es werden nur Vorfälle verwendet, für die mindestens drei Quellen vorliegen. Zudem verhindert der Krieg den Zugang zu weiten Gebieten.

Die gemeldete hohe Zahl ziviler Opfer gilt als Maß für die Intensität eines bewaffneten Konflikts, von dem die Bundesregierung erklärt, er habe sich 2016 verlangsamt. Deshalb sei auch die Abschiebung abgelehnter afghanischer Asylbewerber „grundsätzlich erlaubt“.

Rekordzahlen gibt es bei den Opfern von Selbstmord- und sogenannten komplexen Attacken, mit denen die Aufständischen ­Regierungseinrichtungen angreifen und dabei zivile Opfer in Kauf nehmen, bei Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Taliban sowie Luftschlägen. 2016 war zudem das tödlichste Jahr bisher für afghanische Kinder und Einwohner Kabuls. In der afghanischen Hauptstadt trieben drei schwere Anschläge mit zusammen 144 Toten die Zahlen in die Höhe. Der IS will damit wie in Syrien und Irak einen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten provozieren.

Die Bundesregierung hält die afghanische Hauptstadt jedoch für eines der Gebiete, die für Abschiebungen hinreichend sicher seien. Nachdem mehrere Bundesländer Zweifel am Lagebild der Bundesregierung angemeldet hatten (siehe oben),bat diese das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR um seine Einschätzung. Dieses widersprach Berlin in zentralen Punkten: Die „Gesamtsicherheitslage“ habe sich 2016 „weiter rapide verschlechtert“, das UNHCR unterscheide nicht zwischen „sicheren“ und „unsicheren“ Gebieten in Afghanistan, da die Sicherheitssituation sich ständig verändert. Zudem sei 2016 auch die Zahl der Binnenflüchtlinge um die Rekordzahl von 530.000 angestiegen.

Neben Kabul hält die Bundesregierung die Provinzen Bamian, Pandschir und Herat für sicher, wie aus der Anfrage an das UNHCR hervorgeht. In Pandschir wird tatsächlich nicht gekämpft, und es ereignen sich kaum Anschläge. Es ist ein kleines, armes und dünn besiedeltes Tal nördlich von Kabul, aus dem viele Männer in die Hauptstadt kommen, um Arbeit zu finden.

In der afghanischen Provinz Bamian ist es nur vergleichsweise ruhig: Dort ereigneten sich dem letzten Bericht der EU-Asylbehörde Easo zufolge 2015/16 in neun Monaten 30 sicherheitsrelevante Vorfälle – von Mordanschlägen bis zu Gefechten. In der Provinz Herat wird selbst in stadtnahen Distrikten regelmäßig gekämpft. Der UNHCR sagt auch deshalb, dass es in Afghanistan keine „zumutbaren internen Schutzalternativen“ gebe. Thomas Ruttig