Beschreibung sexualisierter Gewalt: Du Opfer!

Der Begriff stellt Menschen als wehrlos dar, gilt sogar als Beleidigung. „Erlebende“ dagegen ist aktiv und ändert die Perspektive.

Eine gespreizte Hand

„Erlebende“ sind nicht automatisch wehrlos Foto: photocase/106313

Die Rede ist natürlich von dem Wort mit dem großen O. O wie: „Oh mein Gott, ab jetzt muss ich auf Zehenspitzen um dich herumschleichen.“ O wie: Opfer. Denn „Opfer“ ist keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer wehrlos, passiv und ausgeliefert sind – und zwar komplett. Bloß sind Menschen, denen etwas angetan wurde, ja immer noch sie selbst. Vielleicht haben sie sich in der Si­tua­tion ausgeliefert gefühlt, vielleicht haben sie sich auch erfolgreich gewehrt, vielleicht … Doch macht ein Begriff wie Opfer alle gleichsam zu … Opfern eben.

Wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir „Autounfall“ durch „Vergewaltigung“ ersetzen. Das hat Vorteile: dass wir vorsichtig sind, dass wir das Geschehen ernst nehmen. Und Nachteile: dass wir ausschließlich vorsichtig sind, egal, was sich die Person von uns wünscht, dass wir das Geschehen ernster nehmen als alles andere im Leben dieser Person oder dass wir die Person eben nicht ernst nehmen, weil wir eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie und wer Opfer sind und wie sie sich zu verhalten haben.

Indem wir Menschen als Opfer bezeichnen, stecken wir sie in eine Schublade und werfen den Schlüssel weg. Egal, was wir eigentlich meinen. Sprache mag zwar veränderlich sein, doch ist sie nicht beliebig. Natürlich können wir uns morgen entscheiden, „Kaffee“ nur noch „Ohrfeige“ zu nennen, doch sollten wir dann vorsichtig sein, wenn wir jemanden zu einem Kaffee einladen wollen.

Aus dem Bereich des Sakralen

Das Wort „Opfer“ wurde aus dem Verb „opfern“ gebildet und kommt ursprünglich aus dem Bereich des Sakralen. Ein Opfer war das, was man der Gottheit oder den Gottheiten brachte. Im Christentum steht das Opferlamm für Reinheit und Unschuld. Deshalb schien es eine gute Idee, das Konzept auf se­xua­lisierte Gewalt (oder den Holocaust) zu übertragen, um die Opfer von der Schuld an den an ihnen begangenen Verbrechen freizusprechen. Bloß begannen mit der Umdeutung des Opferbegriffs auch die Spekulationen über die „typische Opfer-Persönlichkeitsstruktur“ und warum bestimmte Menschen zu Opfern werden und andere nicht – und ob Opfer nicht irgendwie das Verbrechen anziehen. Populärpsychologisch führt das dazu, dass, wenn beispielsweise Beziehungen zu Bruch gehen, Freund*innen zu Hilfe eilen und fragen: „Überlege doch mal, warum du dir so eine*n ausgesucht hast.“

Okay, das ist keine Frage, aber sie erwarten trotzdem eine Antwort. Im Lexikon finden sich so charmante Synonyme wie: Unglückswurm oder armes Hascherl. Und Jugendliche bringen das mit ihrem feinen Sprachgespür in der Beleidigung „Du Opfer!“ auf den Punkt.

Mithu Sanyal, 45, ist Autorin. Sie hat gerade das Buch „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ veröffentlicht.

Marie Albrecht, 24, studiert Soziale Arbeit. Sie hat einen Beitrag für den Heimweg-Blog der taz verfasst.

Auf dem Heimweg-Blog ­berichten Frauen von ihren Erlebnissen mit sexualisierter Gewalt.

Um von der Vorstellung des armen Hascherl wegzukommen, wurde in den 1990er Jahren der Begriff „Überlebende“ geprägt. Das hörte sich toll an, weil Überlebende aktiv überleben und nicht passiv zum Opfer gemacht werden. Allerdings brach es nicht mit dem Narrativ von Vergewaltigung als dem Schlimmsten, was einer Frau passieren konnte. A fate worse than death – oder zumindest vergleichbar mit dem Tod. Wer das, was ihr oder ihm angetan worden war, selbst definieren wollte, hatte ein Problem, oder ihm*ihr wurde ein Problem gemacht. Wie zum Beispiel Natascha Kampusch, die sich mit nichts so viele Feinde machte wie mit der Aussage: „Ich bin kein Opfer“.

Wie vertrackt die ganze Sache ist, wird daran deutlich, dass erst eine Dekade früher Trauma als Diagnose in das DSM, das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, aufgenommen worden war. Wer möchte, dass die Krankenkasse eine Therapie nach sexualisierter Gewalt bezahlt, braucht die psychiatrische Diagnose Trauma. Dadurch wird jedoch ein Trauma, das von außen zugefügt wurde, zu einer seelischen Wunde, und damit in dem Traumatisierten selbst begründet. In eine ähnliche Richtung geht die juristische Bezeichnung „Geschädigte*r“, im­pli­ziert sie doch, dass Geschädigte einen Schaden zurückbehalten. Und „Betroffene*r“ hört sich so … betroffen an.

Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!

Man muss dafür keine Neologismen bilden wie beispielsweise Refpo (Opfer rückwärts) oder andere kruden Konstruktionen, sondern sie ist bereits in unserer Sprache angelegt: Da das Substantiv „Opfer“ aus dem Verb „opfern“ gebildet wurde, ist es nur naheliegend, aus dem Verb „erleben“ das Substantiv „Erlebende“ zu bilden. Denn das Einzige, was Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, teilen, ist ja eben dieses Erlebnis.

Das Erleben

So wie vorher der Begriff „Überlebende“, nimmt „Erlebende“ eine Verschiebung vom Passiven zum Aktiven vor, allerdings ohne die damit einhergehende Wertung. Schließlich wird Erlebnis erst durch ein beigefügtes Adjektiv (wunderbares Erlebnis, grauenhaftes Erlebnis, langweiliges Erlebnis) näher bestimmt und lässt sogar Raum für Ambivalenzen (ein schreckliches, aber auch banales Erlebnis). Durch die Substantivierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ kann somit jede*r selbst bestimmen, wie er*sie das Erlebte bewertet. Gleichzeitig findet ein Perspektivwechsel statt: Die Formulierung lädt ein, über die Wahrnehmung der erlebenden Person nachzudenken, und nicht, was ein anderer Mensch mit dieser Person macht.

Außerdem trifft das Wort „Erlebende“ noch keine Aussagen über Motivationen und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen. Das Verb „leben“, das im Wort steckt, macht trotzdem deutlich, dass das Erlebte durchaus lebensrelevant sein kann. Manche Erlebnisse müssen überlebt werden, mit manchen wird gelebt, manche werden durchlebt und dann abgeschlossen …

Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Be­trof­fe­ne*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.

Weitere Beiträge zu dieser Debatte stammen von Simone Schmollack und Katrin Gottschalk.

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