Lilien leben länger

Bundesliga Mit dem 2:1-Sieg von Darmstadt 98 über Borussia Dortmund macht sich beim Tabellenletzten wieder Hoffnung auf den Klassenerhalt breit. Doch auf den BVB wartet ein deftiger Kulturkampf

Dortmunds Aubameyang gefangen in einem Netz der verpassten Chancen Foto: Rumpenhorst/dpa

Aus Darmstadt Tobias Schächter

Vergangenen Mittwoch hatte Rüdiger Fritsch die ständigen journalistischen Begleiter des SV Darmstadt 98 zu einem Gespräch in den scherzhaft sogenannten „Weißen Salon“ in den Katakomben des alten Darmstädter Stadions geladen. Weiß sind dort zwar die Wände gestrichen, aber an einen Salon erinnert der kleine, kahle Raum mit Tisch, Stühlen und Kühlschrank nicht wirklich. Der Präsident der Lilien verdeutlichte also in angemessenem Ambiente seine Sicht der aktuellen Situation und stellte klar: „Der Schimmel in der Kabine bringt keine Punkte.“ Mit diesem schönen Satz wollte Fritsch erklären, dass um seinen Klub nach dem wundersamen Aufstieg aus dem Nichts in die Bundesliga „erstmals seit drei Jahren die Realität eingetreten ist“. Kämpferisch und trotzig gab er sich auch, die Mannschaft sei zwar auf Sinkkurs, so Fritsch, aber noch sei man ja nicht untergegangen. Aber: „Um in der ersten Liga mitzuspielen, müssen wir nicht nur Wunder provozieren, sondern brauchen auch noch Glück.“

Das stimmt ja so auch nur bedingt, wie die Spieler des Tabellenletzten am Samstag gegen Borussia Dortmund bewiesen. In Darmstadt fielen nach dem unerwarteten 2:1-Sieg gegen den übertölpelten Favoriten Sätze, die sich vor dem Anpfiff niemand getraut hätte, laut auszusprechen. „Jetzt rollen wir das Feld eben von hinten auf.“ Oder: „Wir leben noch!“ Und: „Jetzt geht die Aufholjagd los.“ Der eingewechselte Siegtorschütze Toni Colak ist überzeugt: „Das gibt einen Mega-Pusch.“

Was gestern noch Durchhalteparole war, ist heute plötzlich realistischer Hoffnungsschimmer. Die Lilien hatten zuvor elf Spiele lang in der Liga nicht mehr gewonnen, lagen mit neun Punkten abgeschlagen am Tabellenende. Das tun sie zwar nun noch immer, aber immerhin liegt der Relegationsplatz 16 plötzlich nur noch vier Punkte entfernt. Und: So gut hat diese Elf in dieser Saison noch nie gespielt.

Der neue Cheftrainer Torsten Frings war nach seinem ersten Sieg im vierten Spiel „unheimlich stolz“ auf seine Elf, die verdient gewonnen hatte gegen die pomadigen Dortmunder. Das gab auch BVB-Trainer Thomas Tuchel zu. Seine junge Hochbegabtenauswahl war einmal mehr beim Mentalitätstest gegen einen kleinen Gegner „gnadenlos durchgefallen“ (Tuchel). Es müsse ein Umdenken stattfinden, forderte der Trainer deshalb: „Wir sind nicht nur das, was wir gegen Leipzig oder Bayern zeigen, sondern auch das, was wir gegen Darmstadt zeigen. Es wäre hilfreich, wenn das mal durchsickern würde. Ich dachte, das ist intern schon angekommen.“ Der Kulturkampf in Dortmund zwischen dem Trainer und den Verantwortlichen um Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke (Champions-League-Qualifikation ist Pflicht) bietet großes Potenzial zum Scheitern auf höchstem Niveau. Endlich wieder einmal über sich hinausgewachsen, sind hingegen die Darmstädter. Und das hatte nichts mit Glück zu tun. Das Geheimnis der wundersamen Wandlung nach zuletzt desolaten Leistungen lag in einem Wort, das Frings seinen Spielern mit auf den Weg gegeben hatte: Mut. In den letzten Monaten standen die Lilien tief in der eigenen Hälfte und warteten nur darauf, was der Gegner macht.

Gegen den BVB aber griffen die Lilien ihre Gegenspieler schon in deren eigenen Hälfte an und spielten nach Ballgewinnen zielstrebig nach vorne. So viele Chancen wie am Samstag hatte diese Elf in der ganzen Runde nicht. Und die Winterzugänge Terrence Boyd, Sidney Sam und vor allem Hamit Altintop waren die Besten.

Der 34-jährige Altintop meldete sich nach Stationen in Schalke, bei den Bayern, Real Madrid und zuletzt fünf von vielen Verletzungen und internen Querelen geprägten Jahren bei Galatasaray Istanbul beeindruckend in der Bundesliga zurück. Torsten Frings forderte genervt: Vor allem jene, die ihn als „alten Opa“ verspottet hätten, müssten sich bei Altintop entschuldigen.

Die Fans riefen schon einmal huldigend dessen Namen, bejubelten wieder jeden Zweikampf wie eine Meisterschaft, jedes Tor wie einen Triumph und den Sieg nach dem Abpfiff – ja, ja – wie ein Signal für: neue Wunder – oder sollte man besser sagen: für neue Realitäten?