„Man muss alles auf einmal anpacken“

Westbalkan Sigmar Gabriels neue Initiative kann Region an EU heranführen, sagt MdB Josip Juratović

Anti-EU-Demo mazedonischer Nationalisten Foto: Boris Grdanoski/ap

taz: Herr Juratović, Ihr Parteifreund Außenminister Sigmar Gabriel und sein tschechischer Kollege Lubomír Zaorálek wollen heute ein neues Konzept für die EU-Balkanpolitik vorlegen. Warum ist das nötig?

Josip Juratović: Nach Ende der Jugoslawienkriege haben die Leute auf dem Westbalkan gehofft, dass ihre Länder in der EU demokratische Rechtsstaaten werden. Stattdessen bestimmen dort heute Nationalismus, Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit den Alltag. 50 Prozent der unter 25-Jährigen haben keine Arbeit – in der ganzen Region. Das hat Gründe: Die Wirtschaftsleistung der Länder der Region liegt heute bei 70 bis 80 Prozent des Vorkriegsniveaus. Um das zu ändern, muss die regionale Zusammenarbeit konkreter werden, in erster Linie bei der Energieversorgung, der Infrastruktur und beim Aufbau eines gemeinsamen Marktes.

Warum sagt man heute „Westbalkan“ statt Exjugoslawien und Albanien?

Weil es um Exjugoslawien minus die EU-Mitglieder Slowenien und Kroatien geht. Und weil die politischen Eliten den Begriff Jugoslawien dort nicht wollen.

Seit Ende des Kommunismus in Albanien sind 27 Jahre vergangen, seit den Jugoslawienkriegen 18. Bulgarien und Rumänien sind seit 10 Jahren EU-Mitglieder, auf dem Westbalkan herrscht Stillstand. Warum jetzt ein neuer Vorstoß?

Auf dem Westbalkan sehen wir doch heute schon, was sich Nationalisten wie Kaczyński, Orbán und Le Pen als Weg für Europa vorstellen. Doch es gibt auch andere Entwicklungen: In Bosnien laufen heute ganz selbstverständlich serbische Filme, kroatische und bosnische Musiker spielen ständig in Serbien, alle schauen alle TV-Sender. Auch die Wissenschaft ist eng vernetzt. Ich lerne auf meinen Reisen immer mehr Unternehmer kennen, die in der ganzen Region Geschäfte machen. All das muss durch konkrete Maßnahmen unterstützt werden – durch eine regionale In­frastruktur, Zollfreiheit zwischen allen Ländern, Rechtssicherheit.

Was ist neu an Gabriels Westbalkanplan?

Nach Ende des Kommunismus und der Jugoslawienkriege hat man versäumt, den Eliten auf dem Westbalkan zu sagen: Ja, es gibt Völkerrecht, Souveränität und so weiter – aber auch die Menschenrechte. Das wird jetzt miteinander verbunden.

Wie wird das gegenüber den lokalen Eliten durchgesetzt?

Auf dem Balkan haben traditionell Großmächte das Sagen. Den Eliten dort muss man klar sagen: Ihr wollt eine Autobahn? Dafür müsst ihr das und das tun. Das ist man in Europa nicht gewohnt. Hier setzt man sich zusammen und geht davon aus, wenn etwas abgesprochen ist, wird das auch so realisiert. Die Erfahrung von über zweieinhalb Jahrzehnten zeigt: Wenn man das den Eliten vor Ort allein überlässt, wird das nichts. Außerdem muss man auf dem Westbalkan alles auf einmal anpacken: Infrastruktur, Energieversorgung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – es reicht nicht, einzelne Projekte in einzelnen Ländern anzugehen, sondern das ist eine historisch zusammengewachsene, vernetzte Region, auch wirtschaftlich.

Warum geben Sie Gabriels Initiative trotz aller absehbaren Widerstände eine Chance?

Josip Juratović

Foto: Reiner Pfisterer

1959 im damaligen Jugoslawien geboren, folgte mit 15 seiner Mutter nach Baden-Württemberg. Der KfZ-Mechaniker aus Heilbronn sitzt seit 2005 für die SPD im Bundestag. Er berichtet im Auswärtigen Ausschuss über Südosteuropa

Gabriel weiß um die akute sicherheits- und europapolitische Tragweite der Probleme. Er schätzt die Lage so ein wie ich.

Rüdiger Rossig

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