Kolumne Gott und die Welt: Kompass einer Jugend

Wir waren weder Antisemiten noch selbsthasserische Juden: Nicht jede Form des Antizionismus ist mit Antisemitismus gleichzusetzen.

Ultraorthodoxe Juden mit Plakaten gegen Israel

Und was ist von ultraorthodoxen Juden zu halten, die am „Al-Quds“-Tag gegen Israel demonstrieren? Foto: dpa

Die zunächst nicht, dann doch ausgestrahlte Arte-Dokumentation „Auserwählt und eingegrenzt“ hat das Thema erneut auf die Tagesordnung gesetzt: das Verhältnis von Antisemitismus und Antizionismus. Zudem hat der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises der Bundesregierung ergeben, dass sich Antisemitismus immer häufiger hinter antizionistischen Parolen verbirgt. Das kann gleichwohl umgekehrt nicht heißen, dass jede Form des Antizionismus schlicht mit Antisemitismus gleichzusetzen ist.

Vor allem: Was ist von Jüdinnen und Juden wie Judith Butler, die sich für BDS einsetzen, oder von jenen ultraorthodoxen Fundamentalisten zu halten, die Jahr für Jahr in Berlin die von Khomeini erfundene „Al-Quds“-Demonstration eröffnen, weil ihrer Meinung nach nur der Messias die Juden ins verheißene Land zurückführen darf? Alles Antisemiten – und wenn nicht, so doch wenigstens selbsthasserische Jüdinnen und Juden?

Der Autor dieser Zeilen weiß, wovon er schreibt, und hat das vor mehr als zwanzig Jahren in seinen Erinnerungen „Kein Weg als Deutscher und Jude“ auch zu Protokoll gegeben. Ich war mit Sicherheit weder Antisemit noch Selbsthasser, als ich nach Jahren begeisterter Mitgliedschaft in einer zionistischen Jugendorganisation 1967 nach Israel ging, 1968/69 in Jerusalem Mitglied einer antizionistischen Organisation wurde, um bald – weil es mir sinnlos schien, nur deshalb nach Israel einzuwandern, um dort für eine sozialistische Revolution zu kämpfen – in das studentenbewegte Frankfurt am Main zurückzukehren.

Mitglied von Matzpen

In Jerusalem jedenfalls wurde ich – vor heute neunundvierzig Jahren – Mitglied von Matzpen, einer kleinen trotzkistischen Organisation, deren hebräischer Name ins Deutsche übersetzt „Kompass“ lautet. Nach Jan Philipp Reemtsma ist der Zeitzeuge der Todfeind des Historikers, was aber in diesem Fall gerade nicht zutrifft.

Nun liegt, soeben erschienen, eine umfassende Geschichte dieser Organisation Matzpen vor. Mit Lutz Fiedlers 2017 in einem renommierten Göttinger Verlag erschienener Monografie „Matzpen. Eine andere israelische Geschichte“ haben nun auch deutsche Leserinnen und Leser die Chance, sich strikt an den Quellen ausgerichtet und von begründeten, abwägenden Urteilen begleitet über diese Geschichte antizionistischer Jüdinnen und Juden zu informieren.

Diese Geschichte beginnt mit der widersprüchlichen Entstalinisierung einer linkssozialistisch-zionistischen Partei und der ihr angeschlossenen Kibbuzbewegung im Israel der 1950er-Jahre, mit Konflikten in dem überaus mächtigen, heute kaum noch bedeutenden Gewerkschaftsbund Histadrut – etwa einem Streik von Matrosen gegen die Gewerkschaft der Seeleute – sowie dem geradezu prophetischen Protest gegen die Besetzung und Besiedlung des Westjordanlandes nach dem Krieg von 1967 und dem misslungenen Versuch, sich in den Prozess einer kaum existierenden sozialistischen palästinensischen Revolution einzuklinken.

Verkehrung des Resultats

Matzpen kritisierte jedenfalls schon damals die al-Fatah: So schrieb einer seiner Aktivisten, Oded Pilavsky, dass das Ziel der Fatah gerade nicht die Beendigung der Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes sei, „sondern nur die Verkehrung des Resultats: die Araber in Besatzer zu verwandeln und die Juden in Unterdrückte“.

Es war Hegel, der in der Vorrede seiner „Rechtsphilosophie“ 1821 schrieb: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“

Nun ist Geschichtsschreibung nicht mit Philosophie identisch, wenngleich die Philosophie ihre Geschichte und die Geschichte ihre Philosophie hat. Es ist in diesen Wochen des Jahres 2017 genau fünfzig Jahre her, dass das Westjordanland und Ostjerusalem von der israelischen Armee erobert wurden und damit ein Jahr weniger, dass wir jüdischen, in Matzpen organisierten Antizionisten vor der Knesseth in Jerusalem „Hala haKibbush“ riefen: „Weg, zurück mit der Eroberung“.

Zu diesem Protest können wir auch noch heute erhobenen Hauptes stehen: Antisemiten oder selbsthasserische Juden waren wir gewiss nicht. Das bezeugt Lutz Fiedlers Buch. Vor allem aber: Wir hatten, was die israelische Besatzung und Besiedlung des Westjordanlandes angeht, Recht. Schlimm genug!

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