Geht’s noch?
: Scheitern als Chance

Was ist aus dem guten alten Rücktritt geworden? Brauchen wir den heute nicht mehr? Schlimmer, Es mangelt an Alternativen

Früher hätte man sich einfach verabschiedet, wenn man etwas derart versemmelt hätte wie CDU, CSU und SPD jetzt die Bundestagswahl. Mit der Schmach hätte niemand leben können. Und heute? Schlechtestes Ergebnis aller Zeiten, zweistellige Verluste, eine Horde fieser Goblins aus den Sümpfen des Landes ins Hohe Haus einmarschiert – na und? Allseitiges Schulterzucken. Angela Merkel tut, als sei nichts gewesen, Martin Schulz führt sich auf, als wäre Opposition sein eigentliches Wahlziel gewesen, und Horst Seehofer knurrt nur einmal warnend gegen die Beta-Rüden im Rudel. Will denn wirklich gar keiner mehr Konsequenzen ziehen?

Vielleicht liegt es daran, dass der Arbeitsmarkt für abgehalfterte Politiker gerade dicht ist. Gerhard Schröder als Aufsichtsrat bei Rosneft, Christian Wulff Prokurist bei einer türkischen Modefirma, und selbst im Bereich der organisierten Kriminalität wird kein Plätzchen frei, weil Matthias Wissmann immer noch als Präsident des Verbands der Automobilindustrie Menschen mittels Beton beseitigt. Was bliebe denn da? Beiratsvorsitzender der Stadtbücherei Würselen? Pressesprecherin für Kim Jong Un? Mit Frauke Petry eine Fraktion der Frustrierten bilden? – Vielleicht zeugt der allgemeine Rücktrittsunwille aber auch von einer höheren gesellschaftlichen Reife. Wem wäre geholfen damit, die Brocken hinzuschmeißen? Markus Söder kann es auch nicht. Julia Klöckner weint schon, wenn ihr mal jemand die Hand nicht gibt, und Jens Spahn kann nicht mal ein Bier auf Englisch bestellen. Da ist es doch heroisch, dass die Altvorderen sich noch mal opfern. Schon Schlingensief hat schließlich das Scheitern als Chance gesehen, und Udo Jürgens prophezeit, dass immer, immer wieder die Sonne aufgeht. Und ist es nicht schön, dass wir diese überkommenen Ehrbegriffe endlich über Bord werfen? Nimm das, Erdoğan!

Außerdem: Solange Michael Müller in Berlin Regierender Bürgermeister bleibt, obschon er nun bereits seine zweite Volksabstimmung krachend verloren hat, Mehrausgaben für einen Flughafen verantwortet, mit denen man ganze Städte neu hochziehen könnte, und für dessen Bürger es zu einer Lebensaufgabe geworden ist, einen verdammten Termin beim Bürgeramt zu ergattern – so lange wird in diesem Land überhaupt niemand mehr zurücktreten. Die Messlatte liegt halt längst am Boden. Heiko Werning