Vom Hörsaal auf den virtuellen Campus

Hamburg hat einen „digitalen Campus“ für die dortigen Studierenden gegründet – aber auch für andere Wissensdurstige. Andere Hochschulen im Norden setzen beim Thema Digitalisierung auf einen Technik-Mix

Die Zukunft im Blick: Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) kostet an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften vom virtuellen Nektar Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

VON ESTHER GEISSLINGER

Ritter, Drachen, Maskenträger: Im Nürnberger „Schembart-Buch“, einer Handschrift aus dem Spätmittelalter, gibt es wunderschöne Zeichnungen zu bestaunen. Ein bibliophiler Schatz wie dieser gehört in einen Safe – dass Studierende und wissenschaftlich Interessierte in dem Werk aus dem Bestand der Kieler Christian-Albrecht-Universität dennoch blättern können, ist eine Folge der Digitalisierung: Die Uni-Bibliothek hat das Buch zum freien Zugang ins Netz gestellt.

Welche Instrumente aus dem Werkzeugkasten der digitalen Welt für Forschung und Lehre sinnvoll und machbar sind, darüber machen sich alle Hochschulen im Norden Gedanken. Einen Vorstoß gab es in Hamburg: Hier wurde im vergangenen Monat ein „digitaler Campus“ eröffnet. Die neue „Hamburg Open Online University“ biete Studierenden die Möglichkeit, interaktiv zu lernen, und mache Lehrangebote für jedermann zugänglich, sagte Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) bei der Vorstellung der neuen Internetplattform.

HOOU kürzt sich die Online-Universität ab, was klingt wie der Schrei einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Über die Plattform können Interessierte auch ohne Studienbescheinigung auf Angebote zugreifen: „Wem gehört das Internet?“, lautet beispielsweise ein Thema, das öffentlich zugänglich ist. Wer sich für diese Frage interessiert, findet ein Lehrvideo zu technischen Fragen, kann sich über rechtliche Probleme informieren und später mit anderen diskutieren.

Eine der Besonderheiten ist, dass alle Hochschulen der Stadt beteiligt sind und jeweils eigene Inhalte ins Netz stellen: Mal sind es Lehrvideos, mal Skripte von Vorlesungen. Die Hochschule für bildende Künste bietet einen Chat mit Grafikdesignern, bei denen auch Menschen von außerhalb des akademischen Betriebs mitreden können. „Die Wissenschaft bewegt sich in Richtung Stadtgesellschaft“, freute sich die Hamburgs Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) beim „Richtfest“ des virtuellen Campus. Der rot-grüne Senat unterstützt das Projekt seit 2015 und noch bis zum kommenden Jahr mit rund 12,5 Millionen Euro – als Teil des Programms „Digitale Stadt“.

An den Hochschulen der anderen Nord-Bundesländer wird das Hamburger Modell sehr wohl betrachtet: interessiert, aber unaufgeregt. „Zurzeit sehen wir noch keinen Nutzen in einer bundesländerübergreifenden Plattform, für die auch die Finanzierung geklärt werden müsste“, sagt Thomas Hoffmeister, Konrektor für Lehre und Studium an der Bremer Universität. Und warum auch? „Wir sehen, dass digitale Angebote wichtig sind“, so Hoffmeister. „Aber wir wollen uns nicht zu einer Fernuniversität entwickeln, sondern eine Universität bleiben, zu der die Studierenden kommen.“ Bei der Digitalisierung gehe es für ihn nicht darum, was technisch machbar sei, sondern inhaltlich sinnvoll.

Ähnlich sieht es Marina Schlünz: Von einem „Hype um die Digitalisierung“ spricht die Vizepräsidentin der Hochschule Hannover. Die Doktorin der Ingenieurswissenschaft ist neben Metallurgie und Werkstoffkunde auch für die dortige Lehre insgesamt zuständig. „Aber das Studium findet im Hörsaal statt.“

Beide Hochschulen setzten heute schon zahlreiche digitale Methoden ein. Hoffmeister nennt als Beispiel das E-Assessment-Center, mit dem Prüfungen über die Plattform abgenommen werden können: „Hier steht Bremen bundesweit mit an der Spitze.“ Online-Chats in Studiengruppen, Lehrvideos und der Zugriff auf Skripte sind weitere Module, die die Bremer Uni anbietet. Lehrende haben neue Methoden entwickelt, um Inhalte in die digitale Welt zu bringen – eine Vorlesung abzufilmen und ins Netz zu stellen sei nicht sinnvoll, stattdessen brauche man spezielle Lernvideos. „Und ohne didaktische Unterstützung bringt das wenig“, sagt Hoffmeister und verweist auf einschlägige Studien.

„Wir halten sehr viel von Mischung“, sagt Schlünz: In praxisorientierten Fächern sei der Einsatz von Videos durchaus sinnvoll: „Wir müssen nicht in eine Glockengießerei gehen, um die Arbeit ansehen zu können.“ Studiengruppen finden sich über ein Verfahren namens „Moodle“ zusammen – eine Hilfe auch für die Lehrenden: „Ich sehe heute zu Semesterbeginn, wer sich eingetragen hat, und habe die Namen viel schneller präsent.“

Schauplatz für Veränderung ist in Hannover nicht zuletzt die Bibliothek: Die einst so heilige Bücherhalle mit Flüsterpflicht hat sich in einen Lernort verwandelt, zu rund 100.000 Entleihungen von Printbüchern kommen jährlich 900.000 Downloads. Für die Studierenden bringe die Mischung aus Präsenzstudium und Online-Angebote den Vorteil, teilweise zu eigenen Zeiten lernen zu können, sagt Schlünz: „Gerade für die, die arbeiten müssen, ist das ein Riesenvorteil.“

Das Hamburger Modell, Lehrinhalte öffentlich zugänglich zu machen, sieht man in Bremen und Hannover auch kritisch: „Nicht alle Angebote sind für die ganze Welt interessant“, sagt Hoffmeister. „Wir müssen unterscheiden zwischen Angeboten mit Relevanz nur für unsere Studierenden und solchen, die wir als Open Educational Resources allgemein öffentlich verfügbar machen.“ Marina Schlünz spricht die Finanzen an: „Wenn wir Webinare zur beruflichen Fortbildung anbieten – warum sollen wir dafür nicht Gebühren fordern?“

Mit dem Digitalen sei es wie mit jeder Technik: „Kluge Köpfe nutzen es sinnvoll“, sagt Schlünz, „wer nur Spiele spielt, hat nichts davon.“