Draußen

Andrea Hejlskov beschreibt, wie sie mit ihrer Familie aus den Zwängen der dänischen Gesellschaft aussteigt, indem sie in eine abgeschiedene Waldhütte in Schweden ziehen

Drinnen: Die Sonne liefert Hejlskov gerade genug Energie zum Schreiben. Draußen: Männer tun , was Männer im Wald so tun Fotos: Mairisch

Von Rebecca Clare Sanger

Eine Frau, die vier Kinder hat und als erfolgreiche Psychologin, Coach und Autorin gearbeitet hat, schreibt einen autofiktiven Roman. Sie, ihr Mann, ihre Kinder sind auf der idyllischen Insel Mors im Lim­fjord am Rande von irgendwas und allem angelangt. Ihr Mann trägt seit Monaten nur noch ein und denselben Fleecepulli und gräbt sinnentleerte, beliebige Löcher in den Spießergarten des gemieteten Hauses. Die Kinder kommen aus ihren Zimmern und hinter ihren Bildschirmen nicht mehr hervor. Kein Umzug will helfen, keine Umstrukturierung und keine Medizin. Eines Tages überfällt ihren Mann der Verdacht: Was ist, wenn es nicht an ihnen, sondern „an den Strukturen um sie herum liegt?“

Die Konsequenz? Die Familie zieht in ein Stück schwedischen Wald. Und der Roman beschreibt den Prozess. Inwendig sowie äußerlich. Die Hände bekommen Schwielen, die Kinder Selbstbewusstsein, die Autorin Zweifel und die Beziehung ihre Bewährungsprobe.

Ein wenig schwer zu greifen ist „Wir hier draußen.“ Denn die systemkritische Fragestellung am Anfang wird eins zu eins nur durch stammtischartige Monologe der männlichen Protagonisten beantwortet. Klar, es gibt auch praktische Details: Wie fällen die Männer einen Baum? Woran hätte die Familie denken sollen, bevor es Herbst wurde? Wie wäscht man Wäsche? Und nicht zuletzt: Wer muss hier überhaupt die Wäsche waschen? Und wer darf die Bäume fällen?

Das ist natürlich auch nicht schlecht: Die Nackigkeit, mit der die Autorin ihr Familienleben beschreibt, die Fragestellungen zu Genderrollen, die im Wald wie außerhalb relevant sind.

Doch es bleibt das Problem: Die einzige triftige Antwort auf „die Strukturenfrage“ scheint nach den laut-scheppernden männlichen Stammtischbrüdern die Protagonistin-Autorin selbst. Als Mutterfigur, als ehrliche, zweifelnde, fragende Frau zieht sie den Leser mit durch ihre existenzielle Krisen, die der Lebensversuch außerhalb der Strukturen mit sich bringt, teilt Glücksmomente und temporäre Antworten, die sie der Natur aus der Nase gezogen hat.

Und während den Leser vielleicht die Waldromantik gewaltig stört – die endlosen Pilze und Blaubeeren, die gepflückt und getrocknet werden wollen, die Raben, die Zeichen setzen, die Runen, die geschnitzt werden –, so sieht er womöglich den Wald vor lauter Bäu …

Denn vielleicht handelt das Buch gar nicht so sehr vom Leben außerhalb der Strukturen, sondern beschreibt viel mehr die Reaktion auf das Leben innerhalb dieser – in Dänemark: Dinge, die einen Dänemarkliebhaber vielleicht verdutzen: Warum die ganzen freien Schulen, mit Meditation, Veganern und Wufas? Was ist mit den ganzen Däninnen, die auf Teufel komm raus Kinder in die Welt setzen und sich danach über das elendige Kindertagesangebot grämen? Und was ist das „jantelov“, jener das individuelle Streben eingrenzende Verhaltenskodex, der das dänische Selbstbild so prägt? Angeblich leiden Dänen noch immer unter ihrer protestantischen Bescheidenheit. Sie versuchen, ihr mit reichlich Individualität beizukommen.

Nicht zuletzt ist auch die Wahl des Zufluchtsorts total dänisch. Dänen hacken, scheint’s, lieber vereiste Bergseen auf, schnitzen Pfeile, bauen kleine Hütten, sprechen von Gesellschaft und vergessen dabei ihre kleinste Einheit, die Familie, nicht. Wo ihre deutschen Pendants auf griechischen Inseln stranden, mit kommunal aufgezogenen Gören, Ehen, Ökonomie und Ideologie, scheinen Dänen sich doch lieber hinter Waldblumenstäußen und Selbstkasteiung zu verbergen – im Aussteigen ähnlich privat wie sonst auch.

Die Waldseen nerven, die die Autorin in ihrer Schönheit und Übergeordnetheit immer dann heranzieht, wo sie meint, es nun mit der Erzählung über sich selbst endgültig übertrieben zu haben. Das „Auto“ der Autorin nervt also: in der Narrative sowohl wie im übergeordneten Zweck, dem Sich-selbst-Finden-und-dadurch-der-Gesellschaft-helfen. Die Autorin nervt übrigens prägnanterweise ihr „auto“ auch: Bringt sie doch Seite um Seite damit zu, den Kampf mit ihm zu beschreiben.

Im Interview erklärt Andrea Hejlskov, dass man durch die Ehrlichkeit, die das Genre der Autofiktion mit sich bringt, am meisten Menschen erreiche. Im Gespräch scheint die Fiktion hinter dem „Auto“ aufzublitzen, und das macht „Wir hier draußen“ ein wenig greifbarer.

War vielleicht die etwas zu selbstherrliche Mutterfigur nur Fiktion? Ging Andrea Hejlskovs Gleichung mit der Ehrlichkeit und der Autofiktion nicht auf? War die Überfrau und Mutter ein untaktischer Griff in den Requisitekasten? Hat die Autorin eine Figur geschaffen, der man es übel nimmt, dass sie sich selbst an die große Glocke hängt und obendrein damit noch Geld machen will? Würde man einer anderen Facette der Autorin, der vielleicht etwas naiven, sympathischen, selbstironischen Psychologin, lieber zuhören, auf ihrer privaten Suche nach Alternativen zu „dem da“?

Kann ja sein. Kann man untersuchen. Der Blog, die Arbeit, das Projekt liegt im Netz, der Solarzelle auf dem Dach des Off-grid-Holzhauses sei Dank.

www.andreahejlskov.com

Andrea Hejlskov, „Wir hier draußen. Eine Familie zieht in den Wald“. Mairisch-Verlag, 2017