„Der Weg zum Polizeistaat“

Unter Xi Jinping geht China auf dem Weg zurück zur totalen Kontrolle der Bürger wie der Wirtschaft, meint der Politologe Willy Sam. Unter der Oberfläche brodelt es

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Willy Lam, 64, ist Politologe an der Hongkong-Universität und gilt als einer der renommiertesten Kenner der Volks-republik.

Interview Felix Lee

taz: Herr Lam, ist China heute noch kommunistisch?

Willy Lam: Deng Xiaoping hatte 1978 sowohl politische als auch wirtschaftliche Reformen eingeleitet. Doch seit Xi Jinping 2012 die Macht übernommen hat, dreht sich die Uhr rückwärts. Xi hat maoistische Normen wiederbelebt und sie auf die heutige Zeit übertragen: Zensur der Medien, Zensur des Internets, die totale Kontrolle über Universitäten, Professoren und der Zivilgesellschaft. Er setzt zugleich auf rote Propaganda und einen Kult um seine Person, wie es ihn in China eigentlich nach den bösen Erfahrungen mit Mao nicht mehr geben sollte.

China ist heute das Land mit den meisten Superreichen und der höchsten sozialen Ungleichheit. Wie passt das zum Kommunismus?

Chinas heutiges politisches System hat natürlich nichts mit dem kommunistischen Gedanken im marxschen Sinne zu tun, sondern lehnt sich eher am Leninismus-Stalinismus der Sowjetunion an. Auch dort hatte der KGB einen Polizeistaat errichtet, der die totale Kontrolle über das Land vorsah. Das heutige China entwickelt sich in diese ­Richtung. Xis ausgerufene Antikor­rup­tionskampagne dient auch nicht nur dazu, korrupte Parteikader zu ent­larven, sondern sich seiner Widersacher zu entledigen. Was auffällt: Ausgerechnet von der sogenannten Roten Aristokratie hat es noch niemanden getroffen, den Top-100-Clans der kommunistischen Führung. Dabei haben sich nachweislich selbst Verwandte von Xi bereichert.

Anders als unter Mao prosperiert China wirtschaftlich.

Ja, das stimmt. Doch selbst in der Wirtschaft gibt es Rückschritte. Xi hat die Belange der Partei wieder über die der Wirtschaftsinteressen gestellt. Das ist ganz klar eine Abkehr von Deng, der an Marktwirtschaft und Privatisierung glaubte.

Derzeit tagt der Kongress der Kommunistischen Partei. Welchen Stellenwert hat die Partei heute wirklich? Ist das nicht alles Fassade?

Der 19. Parteikongress wird offi­ziell absegnen, was sich in den letzten Jahren immer stärker abgezeichnet hat: die uneingeschränkte Macht Xis. Ihm wird der Weg frei gemacht, nicht nur die nächsten fünf, sondern 15, wenn nicht sogar 20 Jahre die Nummer eins zu bleiben. Der Parteikongress wird Xi zum Mao des 21. Jahrhunderts küren.

Das erlaubt die chinesische Verfassung doch gar nicht.

Das ist richtig, die Verfassung erlaubt dem Präsidenten und Premierminister nicht mehr als zwei Amtszeiten. Und nach der Parteikonvention muss auch der Generalsekretär nach spätestens zehn Jahren abtreten. Doch wer Präsident oder Parteichef ist, ist gar nicht so wichtig. Viel wesentlicher ist, wer die Kontrolle über das Militär und den Polizeiapparat hält. Beides hat Xi unter seine Kontrolle gebracht. Selbst wenn Xi die Verfassung nicht ändert, kann er auch nach 2023 weiter über China herrschen.

Fast 90 Millionen Mitglieder zählt Chinas KP. Dabei sind die Aufnahmebedingungen äußerst streng.

Infrage kommen nur Bewerber, die einen tadellosen Lebenslauf vorweisen können.

Das Aufnahmeverfahren besteht aus fünf Stufen. Erst prüft eine lokale Parteizelle den Antrag, dann begleiten zwei Mentoren den Bewerber ein Jahr lang. In dieser Zeit muss sich der Kandidat mit dem Marxismus und den KP-Leitlinien der KP beschäftigen und ein Parteiseminar besuchen. Mindestens acht Bekannte werden über den Kandidaten befragt.

Erst danach darf der Kandidat den Antrag auf Parteimitgliedschaft stellen. Von den jährlich durchschnittlich 20 Millionen Bewerbern schafft es denn auch nur etwa jeder elfte Bewerber, aufgenommen zu werden.

Wenn sich Xi so viel Macht an sich zieht, macht er sich nicht auch jede Menge Feinde?

Ja, sehr viele sogar. Doch sie verhalten sich alle still. Wer es derzeit wagen würde, gegen ihn aufzubegehren, riskiert Kopf und Kragen. Vor fünf Jahren gab es neben den Prinzlingen um Xi noch zwei weitere Fraktionen: die Schanghai-Gang um den ehemaligen Partei- und Staatschef Jiang Zemin sowie die Fraktion der Kommunistischen Jugendliga um dem vorigen Staats- und Parteichef Hu Jintao. Die Schanghai-Fraktion ist komplett weg. Und die Kommunistische Jugendliga wagt nicht zu widersprechen.

Ist Chinas „Kommunismus“ stabil?

Die kommunistische Führung unter Xi sitzt fest im Sattel. Sie betreibt eine gigantische Propagandamaschine. Sie hält die Fassade aufrecht. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Gesellschaftlich gibt es sogar sehr viel Unzufriedenheit. Das eindeutigste Indiz: Die Reichen bringen ihr Vermögen ins Ausland. Die Elite verlässt das Land.