Sie erfuhren es erst von den Nachbarn

In Tübingen observierte die Polizei wochenlang ein linkes Hausprojekt, ohne richterliche Anordnung

Von Martin Kaul

In Tübingen observierte die Polizei über einen knappen Monat ein linkes Wohnprojekt. Zwar fanden die Beamten nichts Verwertbares, nachträglich informiert wurden die Betroffenen trotzdem nicht. Das geht aus einem Schreiben des Landesdatenschutzbeauftragten in Baden-Württemberg hervor, das der taz vorliegt. Demnach fehlte auch eine richterliche Anordnung für die Videoobservation, der Vorgang war demzufolge rechtswidrig.

Laut Datenschutzbeauftragten ermittelte die Polizei wegen Brandstiftung und hatte „aufgrund verschiedener Indizien darauf geschlossen, dass der oder die Täter der autonomen Szene zuzuordnen seien und vom Beginn einer Tatserie auszugehen sei“. Weil das Wohnprojekt in der Schellingstraße 6 ihnen „als Wohnsitz von Angehörigen der autonomen Szene bekannt sei“, installierten die Polizisten eine Kamera, die sie auf den Eingangsbereich richteten. In dem Wohnprojekt leben nach eigenen Angaben rund 110 Personen. Vom 4. bis 29. Juli 2016 zeichnete die Kamera jeweils nachts die Bewegungen im Eingangsbereich auf. Die Betroffenen erfuhren von der Videoüberwachung, weil Nachbarn davon erzählten. Danach wandten sie sich an den Datenschutzbeauftragten, der recherchierte.

Die Staatsanwaltschaft führt demnach an, dass eine Auswertung der Aufnahmen nicht erfolgt sei und keine Identifizierung stattgefunden habe. Außerdem ist sie demnach der Auffassung, dass „trotz der vierwöchigen Dauer der Observation nicht davon ausgegangen werden könne, dass alle Bewohner der Schellingstraße 6 von der Maßnahme betroffen waren“. Da „eine Benachrichtigung der potenziell von der Maßnahme betroffenen Hausbewohner vom Gesetz nicht vorgesehen sei, sei auch eine pauschale Benachrichtigung aller Hausbewohner nicht nötig gewesen“, wird die Staatsanwaltschaft im Schreiben zitiert.

Der Datenschutzbeauftragte kommt jedoch zu dem Schluss, dass eine nachträgliche Benachrichtigung „ohne weitere Nachforschungen und ohne größeren Aufwand (…) möglich und angemessen gewesen wäre“ – etwa indem die Beamten Informationsschreiben in die Briefkästen eingeworfen hätten. Juristisch einfordern, heißt es in dem Schreiben auch, ließe sich das jedoch nicht. Das heißt konkret: Es ist weiterhin möglich, rechtswidrig zu observieren, ohne anschließend die Betroffenen davon in Kenntnis setzen zu müssen. Aufdeckung? Glückssache.

Eine offizielle Beanstandung nimmt der Datenschutzbeauftragte nicht vor. Er verweist darauf, dass die Staatsanwaltschaft Besserung gelobt hat und angeblich künftig in vergleichbaren Konstellationen richterliche Anordnungen erwirken will.

Die Bewohner des Wohnprojekts wollen sich dagegen nun zur Wehr setzen. Sie haben eine „Meldestelle für heimliche Videoüberwachung“ gegründet.