Die Zweiteilung der Welt

Blaue Autos für die mutigen Jungs, rosa Einhörner für die emotionalen Mädchen: Gendermarketing setzt eine Ungleichheit der Geschlechter voraus, verstärkt sie sogar noch und behauptet dann, lediglich die angeblich unterschiedlichen Grundbedürfnisse von Frauen und Männern zu befriedigen

Von Sascha Verlan

Rote T-Shirts für die einen, blaue für die anderen: 2006 veröffentlichten Meagan Patterson und Rebecca Bigler von der University of Texas die Ergebnisse ihrer Studie mit Vorschulkindern. Darin wiesen sie nach, dass bereits die zeitlich begrenzte willkürliche Einteilung in zwei Gruppen Einfluss hat auf die Interessen und das Verhalten. Die Kinder wurden dafür in eine blaue und eine rote Gruppe eingeteilt, drei Wochen lang trugen die einen die erwähnten roten T-Shirts, die anderen blaue.

Blaue und Rote wurden gleichmäßig auf zwei Räume verteilt, sodass sich hier wie dort Kinder aus beiden Gruppen aufhielten. Im einen Raum wurden die Farben nicht weiter erwähnt, im anderen dagegen sprachen die Erzieher*innen die beiden Kategorien immer wieder an: „Guten Morgen Blaue, guten Morgen Rote.“ Sie verteilten blaue und rote Schildchen, die Kinder sollten sich morgens in zwei Reihen nach Rot und Blau getrennt aufstellen und so weiter. Als die Kinder aus beiden Räumen später befragt wurden, zeigte sich: Sie wollten lieber mit Kindern derselben Farbgruppe spielen; auch mochten sie die Spielsachen lieber, die die eigene Gruppe bevorzugte.

Bei den Kindern aus dem Raum, in dem die Erzieher*innen die Farbunterschiede regelmäßig betont hatten, waren diese neuen Vorlieben noch sehr viel stärker ausgeprägt. Gerade mal drei Wochen also hatten ausgereicht, um die zuvor gewachsenen Sozialstrukturen und die individuellen Interessen der Kinder zu verändern; drei Wochen, in denen eine Gruppe Kinder wahllos und mutwillig in zwei Gruppen geteilt worden war.

Die Sache mit der heißen Kartoffel

Viele andere Studien bestätigen die Ergebnisse von Patterson und Bigler: Wenn auf einer Kiste mit an sich neutralen Spielsachen „Jungen“ oder „Mädchen“ steht, dann interessieren sich auch nur jeweils Mädchen oder Jungen dafür, was darin zu finden ist. Kinder bringen bei Knobelaufgaben oder Geschicklichkeitsspielen bessere Leistungen, wurde ihnen davor gesagt, dass ihr jeweiliges Geschlecht dabei immer besonders gut abschneidet. Kinder interessieren sich länger und intensiver für ein Spielangebot, wenn man ihnen sagt, es sei extra für ihr Geschlecht entwickelt worden. Und sie verlieren sogar mitten im Spiel das Interesse an einer Sache, wenn sie erfahren, diese sei eigentlich für das andere Geschlecht gedacht; man spricht dann vom sogenannten Hot-Potatoe-Effekt.

Die Art und Weise, wie ein Spielangebot gemacht und kommuniziert wird, Verpackung, Gestaltung, Aufbewahrung, die Ansprache der Kinder: All das hat also nachweislich Einfluss auf das Spielverhalten, die Interessen, die späteren Fähigkeiten und die sozialen Interaktionen von Kindern. Ersetzt man nun rote und blaue T-Shirts durch rosa und schwarze Spielzeugschachteln, gegen pinke und blaue Müsliverpackungen, dann zeigt sich, wie Kinder – aber auch Erwachsene – jeden Tag aufs Neue zu Teilnehmenden der genannten Studien gemacht werden, allerdings ohne zeitliche Begrenzung, ohne Auflösung oder gar pädagogische Aufarbeitung.

Ladys-Chips und Marzipan für echte Kerle. Herrenschokolade und Kekse für Mädels, Scheibenreiniger, Mineralwasser, Kalender und Papiertaschentücher: Mit jeder neuen Kampagne verstärkt solches Gendermarketing den Eindruck, Frauen und Männer hätten allein aufgrund ihres Geschlechts ganz unterschiedliche Bedürfnisse, sogar bei Bastelkleber, Nagelscheren, Hundeleinen oder WC-Duftspüler, und müssten sich äußerlich wie innerlich voneinander abgrenzen.

Ebenfalls im Jahr 2006 fand in Berlin der erste internationale Gendermarketing-Kongress statt – Motto: „Was Frauen wollen“. Das Jahr 2006 ist in diesem Zusammenhang überhaupt ein schaurig-wichtiges Jahr, denn neben „Germany’s Next Top Model“ startete auch Youtube, und beide wirken eifrig mit an der Normierung von Rollenbildern und der Einengung unserer Vorstellung, was ein Mann ist, wie sich eine Frau verhält, wie Jungen und Mädchen zu sein haben. Seitdem jedenfalls breitet sich die Zweiteilung der Welt in coole Abenteurer und schlanke Prinzessinnen aus bis in die Kinderzimmer von Neugeborenen, mal subtil, mal brachial.

Anziehen, Essen, Lesen

Gendermarketing teilt Kinder in zwei Gruppen und zwingt sie immer wieder dazu, sich zu positionieren: beim Anziehen, beim Essen, beim Schulranzenkauf, beim Lesen oder Rechnen. Welche Auswirkungen es auf ein Individuum hat, wenn er oder sie in eine Gruppe eingeordnet wird, ist in den unterschiedlichsten Studien und Settings nachgewiesen worden, seit Henri Tajfel und John Turner in den 1970er-Jahren ihre „Theorie der sozialen Identität“ entwickelt haben: die Trennung in zwei sorgt zuverlässig dafür, dass sich innerhalb der eigenen Gruppe ein Wir-Gefühl entwickelt – und das Bedürfnis entsteht, sich von den anderen abzugrenzen, von der „Fremdgruppe“. Die eigene Gruppe wird bevorzugt, Nichtmitglieder werden benachteiligt, und noch weitreichender: Die eigene Meinung, die eigenen Vorlieben und Interessen werden dem Gruppenkonsens angepasst. Unser Selbstwertgefühl speist sich eben nicht nur aus dem, was wir selbst leisten, sondern auch aus der Gruppe, mit der wir uns identifizieren – oder der wir von anderen zugeordnet werden.

Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass sich Jungen und Mädchen in Kleidung und Spielzeug, Interessen und Verhaltensweise voneinander abgrenzen – es liegt in der Logik der Gruppenteilung. Und Gendermarketing profitiert davon und hat in den vergangenen Jahren einen sich selbst verstärkender Prozess in Gang gesetzt: Je mehr gegenderte Produkte auf den Markt kamen, desto größer wurde auch das Bedürfnis, sich abzugrenzen und durch solche Produkte die eigene Gruppenzugehörigkeit zu betonen. Das schlägt sich in den Verkaufszahlen gegenderter Produkte nieder, was die Unternehmen wiederum dazu bewegt, noch mehr auf Geschlechtertrennung zu setzen: coole, technikbegeisterte Helden in Blau, niedliche, tierliebende Puppenmuttis in Pink.

Und trotzdem behaupten Unternehmen und Handel, sie würden nur auf die Wünsche und die Bedürfnisse ihrer Kundschaft, also der Kinder reagieren, und schieben damit ihre Verantwortung ab auf die Familien. Dabei sind die Machtverhältnisse eigentlich klar: Allein die Marketingindustrie in Deutschland hat einen jährlichen Gesamtumsatz von über 30 Milliarden Euro. Von der Chancengleichheit, die in der Erwachsenenwelt angestrebt wird, ist hier jedenfalls nichts mehr zu spüren.

Wir alle machen Unterschiede

Eine BBC-Dokumentation („Do you stereotype children?“) zeigte eindrucksvoll, wie sehr Erwachsene das Spiel von Kindern unbewusst beeinflussen, wie sehr Jungen und Mädchen mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert werden. Das fängt damit an, dass viele Eltern, sobald sie das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes wissen, durch die Bauchdecke mit Mädchen in einer höheren Stimmlage sprechen, mit Jungen dafür weniger. Mädchen und Jungen bekommen andere Spielangebote, ihr Weinen wird anders gedeutet: hier als Ausdruck von Angst, dort als Zeichen von Wut und Ärger. Ein- und dasselbe Kind wird als kräftig beschrieben und schwerer eingeschätzt, wenn die Studienleitung behauptet, es sei ein Junge. Mädchen werden immer wieder daran erinnert, doch bitte vorsichtig zu sein, während Jungen in einem viel größeren Bewegungsradius die Welt entdecken dürfen. Später müssen Mädchen mehr und sehr viel selbstverständlicher im Haushalt mithelfen, insbesondere auch bei der Betreuung jüngerer Geschwister, Jungen in Deutschland bekommen im Durchschnitt mehr Taschengeld.

Gerade in der Kinderwelt sind wir von einer Gleichbehandlung und -berechtigung der Geschlechter also weit entfernt. Gendermarketing profitiert von dieser Ungleichheit, verstärkt sie und behauptet, die Grundbedürfnisse von Frauen und Männern seien eben unterschiedlich. Wie unterschiedlich die Geschlechter von Natur aus sind, lässt sich allerdings nur schwer beurteilen in einer Welt, die schon vor der Geburt anfängt, sie unterschiedlich zu behandeln und einschätzen.

Sascha Verlan ist einer der drei InitiatorInnen des „Goldenen Zaunpfahls“, des 2017 erstmals verliehenen „Negativpreises für absurdes Gendermarketing“.

Am 9. November, 20 Uhr, liest er in der Bötjerischen Scheune in Worpswede aus dem Buch „Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“, das er gemeinsam mit Almut Schnerring herausgebracht hat (Verlag Antje Kunstmann, 2014, 256 S., 16 Euro).