Was Sie jetzt über die Verfassung wissen müssen

Blick ins Grundgesetz: Wo geht’s zur Minderheitsregierung, wo zu Neuwahlen und wie lange dauert es?

Von Tobias Schulze

Kann Frank-Walter Steinmeier die SPD zu Koalitionsverhandlungen bewegen?

Der Wortlaut des Grundgesetzes sieht für den Bundespräsidenten keine Kupplerrolle vor; er kann die SPD also nicht damit beauftragen oder dazu verdonnern, doch über eine Koalition zu verhandeln. Es steht ihm aber frei, den Parteien ins Gewissen zu reden. Damit hat er begonnen.

Bis wann muss eine Entscheidung fallen?

Das Grundgesetz sieht keine Frist vor, wann eine Regierung stehen muss. Artikel 63 sagt, dass der „Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag“ gewählt wird, nennt aber keinen Zeitraum. Verfassungsrechtler gehen zwar davon aus, dass der Präsident eine „angemessene Frist“ einhalten muss. „Angemessen“ ist aber ein dehnbarer Begriff.

Was passiert bis zu einer Entscheidung?

Die alte Bundesregierung bleibt geschäftsführend im Amt. Kanzlerin und Minister behalten fast alle Rechte und Pflichten und können weiterhin Gesetze in den Bundestag einbringen. Vertrauensfrage oder Misstrauensvotum sind aber nicht möglich. Weder Merkel noch die Opposition im Bundestag können Neuwahlen erzwingen.

Wie kommt es dann zu Neuwahlen?

Der Präsident muss dem Bundestag einen Kanzlerkandidaten vorschlagen. Bekommt dieser im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Sie dauert 14 Tage. In dieser Zeit kann der Bundestag eigene Kandidaten vorschlagen und so viele Wahlgänge durchführen, wie er will – bis doch jemand eine absolute Mehrheit bekommt.

Falls es nicht dazu kommt?

Dann startet die dritte Wahlphase. Wenn jetzt ein Kandidat die relative Mehrheit erzielt (also Merkel zum Beispiel nur mit den Stimmen der Union die Abstimmung gewinnt), hat der Bundespräsident sieben Tage für eine Entscheidung: Entweder ernennt er den Kandidaten zum Kanzler – oder er löst das Parlament auf. Dann gibt es innerhalb von sechzig Tagen Neuwahlen.

Und wie käme es zu einer Minderheitskanzlerin Merkel?

Variante 1: Merkel wird in der dritten Wahlphase mit relativer Mehrheit gewählt und Steinmeier löst das Parlament nicht auf, sondern ernennt sie. Variante 2: Die Union einigt sich mit anderen Fraktionen darauf, Merkel in einer der drei Wahlphasen mit absoluter Mehrheit zur Kanzlerin zu wählen – auch ohne Koalitionsvertrag und ohne Konsequenzen für das Verhalten in der restlichen Legislaturperiode.

Wie würde so eine Minderheitsregierung funktionieren?

Eigentlich wie jede andere. Der Präsident ernennt weiterhin auf Vorschlag des Kanzlers die Minister, die Regierung behält alle Rechte und Pflichten. Nur die Gesetzgebung wird schwierig: Für jedes Gesetz, für jeden Haushalt und für jedes Bundeswehrmandat müsste die Regierung wahrscheinlich aufs Neue eine Bundestagsmehrheit finden.