Bürgermeister nach Attentat: Der Unbeugsame

Nach dem Messerangriff kehrt Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein ins Rathaus zurück. Er hält an seiner liberalen Asylpolitik fest.

Ein Mann, Andreas Hollstein, unter dem Stadtwappen von Altena

„Ich habe großes Glück gehabt.“ Andreas Hollstein am Dienstag im Rathaus Foto: ap

ALTENA taz | Im Mai stand Andreas Hollstein auf großer Bühne, im Kanzleramt in Berlin. Angela Merkel überreichte dem CDU-Mann den erstmals verliehenen Nationalen Integrationspreis, dotiert mit 10.000 Euro. Wie die Stadt mit Flüchtlingen umgehe, wie sie sich auf die Menschen einlasse, das sei ein „ganz besonderer Dienst“, lobte die Kanzlerin den Bürgermeister aus Altena, der 17.000-Einwohner-Stadt in NRW. Und Hollstein strahlte. Er wolle doch nur zeigen, „dass Integration geht“.

Nun, ein halbes Jahr später, steht Hollstein wieder im Rampenlicht. Nur diesmal hätte er mehr als darauf verzichten können. Am Montagabend wurde der Bürgermeister Opfer eines Messerangriffs. Der Täter ätzte über Hollsteins Flüchtlingspolitik. Damit bildet die Attacke einen weiteren traurigen Höhepunkt von Angriffen von rechts auf Kommunalpolitiker.

Am Dienstagvormittag sitzt Hollstein bereits wieder im Rathaus, Kameras richten sich auf ihn, an seinem Hals klebt ein großes Pflaster. Nach seiner Krebserkrankung habe er ein zweites Leben geschenkt bekommen, sagt der 54-Jährige, er wirkt angefasst. „Gestern Abend habe ich ein drittes geschenkt bekommen.“ Er habe „großes Glück“ gehabt. Nur dank zweier Mitbürger sitze er heute hier.

22 Zentimeter Klinge

Am Vorabend war Hollstein nach einer Ausschusssitzung in einen Imbiss gegangen, um Döner zu kaufen. Hollstein gerät ins Plaudern mit dem Besitzer, man kennt sich. Dann stößt Werner S. dazu, auch er aus Altena, 56 Jahre alt, ein arbeitsloser Maurer, alleinlebend. „Sind Sie der Bürgermeister?“, fragt dieser plötzlich. Hollstein bejaht. Darauf holt S. ein Küchenmesser aus seinem Rucksack, mit 22 Zentimeter langer Klinge. Er fasst den Bürgermeister um den Hals, presst das Messer dagegen. Hollstein hole „Asylanten“ in die Stadt und er habe nichts zu saufen, weil ihm das Wasser abgedreht werde, ruft S.

Der Bürgermeister drückt das Messer zur Seite. Mit den zwei Imbissbetreibern, Vater und Sohn, ringt er S. auf den Boden. Die Frau des Betreibers eilt zur benachbarten Polizeistation. „Erschieß mich doch“, ruft der Messerstecher, als die Beamten eintreffen. „Das passiert nicht in einem Rechtsstaat“, antwortet Hollstein. Dann wird Werner S. festgenommen.

Hollstein muss nur kurz ins Krankenhaus, die 15 Zentimeter lange Schnittwunde an seinem Hals kann geklebt werden. Sehr geschockt sei der Bürgermeister gewesen, sagt Ahmet Demir, der Imbissbetreiber. „Ich habe noch niemanden so weiß gesehen.“

Hollmann klagt über einen „Werteverfall in der Gesellschaft“. Deshalb dürfe man nicht einknicken

Tags darauf treten auch Polizei und Staatsanwaltschaft vor die Presse. Versuchten Mord werfen sie Werner S. vor. Nur der Gegenwehr sei es zu verdanken, dass nicht mehr geschehen sei, sagt der Staatsanwalt. Mit 1,1 Promille sei S. auch nur leicht alkoholisiert gewesen. Und der „Asylanten“-Ausspruch spreche für ein fremdenfeindliches Motiv. Verbindungen von Werner S. in die rechte Szene seien indes bisher nicht bekannt. Die Schuldfähigkeit werde aber noch geklärt. S., der bisher die Aussage verweigert, soll unter psychischen Problemen leiden. Wegen einer Insolvenz stehe sein Haus unter Zwangsversteigerung, die Wasserversorgung wurde bereits abgestellt. Vorbestraft ist S. wegen einer Körperverletzung und Trunkenheit im Verkehr.

Er kenne sehr viele in Altena, den Angreifer aber nicht, sagt Hollstein im Rathaus. Dennoch glaube er, dass die Tat gezielt geschah. „Dass das Messer in der Tasche für mich gedacht war, das glaube ich.“ Der Staatsanwalt spricht dagegen von einer Spontantat: Schließlich sei Werner S. erst im Imbiss gewahr geworden, dass er den Bürgermeister vor sich habe.

Patensystem für Flüchtlinge

Hollstein ist in Altena geboren, hier ging er zur Schule. Er studierte Jura, 1999 wird er Bürgermeister. Kein leichter Job. In den Siebzigern hatte Altena noch 30.000 Einwohner, nun sind es 17.000. Arbeitsplätze sind rar, Gebäude stehen leer, die Stadt muss sparen.

Als im Herbst 2015 Tausende Flüchtlinge nach Deutschland reisen, wagt Hollstein einen Vorstoß. 270 Flüchtlinge soll Altena aufnehmen, der Bürgermeister holt noch 100 Asylbewerber dazu. Und die Stadt begrüßt sie mit einem Patensystem. Jede Flüchtlingsfamilie bekommt einen „Kümmerer“. Neben dem Rathaus eröffnet ein Integrationsbüro, in dem Wohnungen oder Sprachkurse vermittelt werden. „Vom Flüchtling zum Altenaer Mitbürger“, heißt das Programm. Und die Stadt erhält dafür den Integrationspreis.

Hollstein, vierfacher Vater, steht hinter Merkels Flüchtlingspolitik. Seine Großmutter ist gebürtige Litauerin, im Zweiten Weltkrieg floh sie aus Ostpreußen. „Es soll nie wieder Krieg geben“, geben Hollstein die Großeltern mit auf den Weg. Und der Enkel will sich nun um die kümmern, die heute fliehen.

Im Oktober 2015 indes zündet auch ein Brandsatz in einer Altenaer Flüchtlingsunterkunft. „Die Schweine“, ist Hollsteins erste Reaktion, wie er später in einem Buch schildert. Einen der zwei Täter kennt der Bürgermeister persönlich: Er gehört zur Feuerwehr. Hollstein hätte ihm die Tat niemals zugetraut. Die Männer werden zu fünf und sechs Jahren Haft verurteilt.

„Hauen Sie ab“

Auch Hollstein erhält Hassmails. „Sie haben schlicht und einfach den Verstand verloren, hauen Sie ab“, schreibt einer. Der CDU-Mann aber lässt sich nicht abbringen. Er habe eine Regel, sagt er: Er müsse stets in den Spiegel schauen können.

Und Hollstein sieht sich heute bestätigt: 450 Flüchtlinge lebten aktuell in Altena. Die Stadt sei mit ihrer Hilfe über sich hinausgewachsen, fast alle hätten mit angepackt. Und eine soziale Schieflage, die den geäußerten Hass rechtfertige, gebe es in Altena auch nicht mehr. Die wirtschaftliche Situation habe sich stabilisiert. 6,8 Prozent betrage die Arbeitslosenquote heute, ganze vier Obdachlose gebe es in der Stadt.

Er werde bei seiner Politik bleiben, betont Hollstein nun auch am Dienstag. Auch jetzt hätten ihn Nachrichten erreicht, in denen die Messerattacke begrüßt werde. Hollstein spricht von einem „Werteverfall in unserer Gesellschaft“, dem sich viele Kommunalpolitiker ausgesetzt sähen. „Genau deshalb werde ich weitermachen.“

Tröglitz, Köln, Altena

Tatsächlich ist Hollstein nicht allein. In Tröglitz zwangen Flüchtlingsfeinde den Bürgermeister zum Rücktritt, in Freital wurde das Auto eines Linken-Stadtrats gesprengt, in Köln stach ein Rechtsextremist der parteilosen Oberbürgermeisterin Henriette Reker ein Messer in den Hals. Reker übersendet Hollstein nun eine Solidaritätsadresse. Ein solches Attentat verändere das Leben, „aber es darf nicht unser Verhalten ändern“. Die Gesellschaft müsse ihre Offenheit verteidigen. „Denn Hass und Gewalt sind keine Lösung, sie sind das Problem.“

Auch die Kanzlerin äußert sich „entsetzt“ über die Tat. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) spricht von einer „verabscheuungswürdigen“ Attacke. Justizminister Heiko Maas (SPD) sagt, man dürfe niemals akzeptieren, „dass Menschen attackiert werden, nur weil sie anderen helfen“.

Hollstein sagt, er würde alles genau so machen, wie er es gemacht habe. Er werde weiter allen helfen – den Flüchtlingen in Altena und den Alteingesessenen. Hollstein steht jetzt unter Polizeischutz.

Am Nachmittag sitzt Hollstein wieder in seinem Büro im Rathaus. „Normalität ist jetzt wichtig“, sagt der CDU-Mann. Dann macht er sich an die Arbeit: die letzte Planung für die Eröffnung des Altenaer Weihnachtsmarkts.

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