Schreibt sie nicht zu früh ab

Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihre Posten räumen müssen: Martin Schulz und Horst Seehofer bröselte der Rückhalt aus ihren Parteien zuletzt weg. Dennoch könnten beide Parteichefs bleiben – der eine, weil er beliebt an der Basis ist, der andere, weil er konsequent und hartnäckig ist

Wie sich die Bilder gleichen: Martin Schulz, 25. September in Berlin …

… und Seehofer-Horst, 23. November in München Fotos: reuters

„Bullshit“

Kommentar aus der SPD-Führungsriege zu einem Bericht der „Tagesschau“, man wolle ­Martin Schulz stürzen

Aus Berlin Tobias Schulze

Franz Müntefering meinte einmal, der SPD-Vorsitz sei das schönste Amt neben dem des Papstes. Martin Schulz kann das nach diesem Jahr wahrscheinlich nicht bestätigen. Erst der verkorkste Wahlkampf, danach die Pleite am Wahlabend, jetzt der Mist mit der Regierungsbildung – und dann ist noch nicht einmal jemand in Sicht, der ihn als SPD-Chef stürzen möchte.

Also steht er am Freitagmittag mal wieder im Foyer des Willy-Brandt-Hauses vor den Kameras, verkündet nicht seinen Rücktritt, sondern erklärt den neuen Koalitionskurs seiner Partei. „Wir sind uns einig, dass wir der Einladung des Bundespräsidenten zu Gesprächen mit den anderen Parteien selbstverständlich folgen werden“, sagt Schulz. In den kommenden Wochen würden noch viele weitere Gespräche zur Regierungsbildung folgen. Und er selbst wird offenbar als SPD-Chef dabei sein.

Am Vorabend gab es daran kurz Zweifel. Im Willy-Brandt-Haus saß die engste Parteiführung lang zusammen: der Parteichef, seine Stellvertreter, der Generalsekretär, einige Ministerpräsidenten und Minister. Zusammen berieten sie, was die SPD jetzt bloß machen soll. Das Gespräch lief seit drei Stunden, als die „Tagesschau“ berichtete, die Genossen würden Martin Schulz vielleicht noch in dieser Nacht stürzen. „Bullshit“, sagt ein Teilnehmer der Runde am nächsten Morgen. Man habe neun Stunden diskutiert, wie die SPD jetzt dabei helfen könnte, eine Regierung zu finden. Eine Aufgabe, die für die Sozialdemokraten in dieser Woche nicht einfacher geworden ist.

Rückblick. Montagmorgen: Die Jamaika-Sondierungen sind gerade geplatzt, der SPD-Vorstand berät über die nächsten Schritte. Die Partei müsse sich jetzt für Gespräche öffnen, fordern einige. Nichts da, sagt Schulz, keine Große Koalition. Von diesem Versprechen des Wahlabends dürfe die Partei jetzt nicht abrücken. Am Ende tritt er vor die Presse und legt sich fest: „Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht.“

Nach gerade mal einer Stunde ist klar: Das war voreilig. Im Schloss Bellevue verkündet der Bundespräsident, dass er Neuwahlen nur als allerletztes Mittel zulassen werde. Später am Nachmittag treffen sich dann im Reichstagsgebäude die Abgeordneten der SPD-Fraktion. Hinter verschlossenen Türen wird auch hier klar: Auf Neuwahlen möchten viele verzichten.

Zwei Argumente stehen gegen Schulz’ Vorhaben: Wahlkampf und Wahlpleite haben die SPD aufgezehrt. Viele in der Partei trauen sich die Kraft nicht zu, schon jetzt in die nächste Runde zu gehen, schon wieder Plakate zu kleben, nur um am Ende vielleicht noch ein paar Prozentpunkte mehr zu verlieren. Und dann ist da ja auch noch diese staatspolitische Verantwortung, von der plötzlich alle reden: Ist die SPD nicht dazu verpflichtet, vor Neuwahlen zumindest mal darüber zu reden, wie eine Regierung zustande kommen könnte?

Spätestens am Donnerstag wird vermutlich auch Schulz klar geworden sein, dass sein Plan nicht funktioniert. Frank-Walter Steinmeier lädt ihn da zum Gespräch vor und kündigt an, Schloss Bellevue in der kommenden Woche zu einer Art Koalitionsanbahnungsinstitut zu machen. Schulz soll einem gemeinsamen Termin mit Angela Merkel und Horst Seehofer zustimmen. Der SPD-Chef kann nichts dagegen machen – oder soll er eine Einladung des Bundespräsidenten ausschlagen?

Das ist also die Situation, in der die SPD-Spitze am Donnerstagabend zusammenkommt, um über ihre Optionen zu beraten. Neuwahlen sind nicht vom Tisch, aber auch nicht leicht zu bekommen. Eine Minderheitsregierung der Union, von den Sozialdemokraten geduldet, können sich einige in der SPD vorstellen, vor allem im linken Flügel. Diese Variante liegt aber nicht in ihrer Hand. Zuallererst müsste Merkel dazu bereit sein. Danach der Rest der Union. Und am Ende auch noch Steinmeier.

Bliebe die GroKo. Aber wie will die SPD diese Variante ihren Mitgliedern verkaufen? Noch dazu nach dem Auftritt des Parteichefs am Montag?

Auf diese Frage gibt es vier Antworten. Erstens: zögern, zaudern, nichts überstürzen. Er werde sich nächste Woche mit Merkel und Seehofer treffen, sagt Schulz am Freitag. „Es gibt aber keinen Automatismus in irgendeine Richtung.“ Selbst wenn der Termin gut verlaufe, wolle die SPD-Spitze nicht sofort Sondierungsgespräche aufnehmen. Damit könnte sie bis Januar warten. Zweitens: die Basis beteiligen. Spätestens über einen fertigen Koalitionsvertrag dürften die SPD-Mitglieder abstimmen. Vielleicht würde sich die Parteispitze sogar schon das Okay zu Verhandlungen von ihnen einholen. Drittens: mit Forderungen in die Gespräche gehen, denen die CDU nur unter Schmerzen nachgeben könnte. Eine Gesundheitsreform mit Bürgerversicherung ist nur einer der Vorschläge, die am Freitag in der SPD kursierten.

Und viertens: einen Sympathieträger für das Vorhaben werben lassen. Glücklich hat sich Martin Schulz in den vergangenen Monaten nicht angestellt. Am vergangenem Montag auch nicht. An der SPD-Basis mögen sie ihn aber immer noch. Das weiß auch die Runde, die am Donnerstagabend im Willy-Brandt-Haus mit ihm zusammensaß.

„Horst, es ist Zeit“

Peter Gauweiler knapp zwei Wochen nach der Bundestagswahl zu seinem Parteikollegen Horst Seehofer

Aus München Dominik Baur

Donnerstagabend, 22.41 Uhr. Jetzt sitzt er da, der Mann, den die Süddeutsche Zeitung jüngst als „Dead Man Walking“ bezeichnet hat, grinst in die Runde, ist hellwach. Es war ein langer Tag. Mit den CSU-Bezirkschefs hat er heute schon gesprochen, mit der Landtagsfraktion, mit seinen Stellvertretern, mit Markus Söder, zuletzt viereinhalb Stunden mit dem Parteivorstand. Und ist immer noch nicht müde. Bei der Pressekonferenz in der CSU-Zentrale kämpfen die Journalisten gegen Gähnreflexe, Seehofer dagegen gibt sich enttäuscht, als sein Sprecher irgendwann ankündigt: Noch acht Fragen, dann ist Schluss.

„Horst, es ist Zeit“, hat Peter Gauweiler seinem Parteivorsitzenden knapp zwei Wochen nach der Bundestagswahl zugerufen. Doch ein Horst Seehofer lässt sich nicht so einfach vom Hof jagen. Wenn schon abtreten, dann zu seinen Bedingungen. Aber wer redet hier überhaupt von Abtreten? Der 68-Jährige will ja noch. Solange der Kampf eine noch so kleine Aussicht auf Erfolg hat, kämpft er. Sein Vorteil: Er kennt seine Gegner gut, weiß, wie man sie ins Leere laufen lassen kann.

Bestes Beispiel: die Fraktionssitzung am Nachmittag. Hier sitzt Seehofer seinen erbittertsten Gegnern gegenüber, Söders Adjutanten: Ob Albert ­Füracker, Ludwig Spaenle, Georg Eisenreich, Hans Reichhart oder Alexander König – alle haben sie in jüngster Zeit lautstark gegen Seehofers Truppen geschossen, seine Ablösung gefordert, während Seehofer in Berlin sondierte. Jetzt ist er wieder da. Nach der Fraktionssitzung freuen sich alle Teilnehmer, wie harmonisch das Treffen abgelaufen sei.

Natürlich weiß Seehofer, dass Markus Söder ein gefährlicher Gegner ist. Deshalb vermeidet er die direkte Konfrontation. Denn sobald es heißt: Er oder ich?, wird es eng. Seine neueste Volte verkündet er am Abend im Vorstand: Eine Findungskommission soll es richten. Seehofer hat sich selbst drei Aufpasser an die Seite gestellt, CSU-Vize und Landtagspräsidentin Barbara Stamm sowie die beiden Ehrenvor­sitzenden Edmund Stoiber und Theo Waigel. Sie sollen zusammen ausloten, wie die personelle Zukunft der Partei aussehen könne. Am 4. Dezember will Seehofer dann ­einen Vorschlag vorlegen. Er bleibt Herr des Verfahrens – und vielleicht noch mehr.

28 Jahre saß Seehofer im Bundestag, er war Staatssekretär und Minister, seit neun Jahren ist er Ministerpräsident und Parteichef. Er ist Vollblutpolitiker. Keiner, der loslassen kann. Privatleben, Hobbys – so etwas gebe es für ihn eigentlich kaum noch, den gemeinsamen Freundeskreis pflege seine Frau, erzählte er schon mehrfach. Am 4. Juli 1947 wurde Horst Lorenz Seehofer in Ingolstadt geboren. Er betont gern die einfachen Verhältnisse, aus denen er kommt. Ein Arbeiterbub. Der Vater, so erzählte er, arbeitete als Lastwagenfahrer und Bauarbeiter. Oder auch gar nicht. Die Botschaft: Ich weiß, wie es dem kleinen Mann geht. Es ist durchaus glaubhaft, dass ihn seine Herkunft politisch stark geprägt hat.

Sicher, Seehofers Bilanz ist durchwachsen. Als seinen größten Fehler sehen viele die planlose Konfrontation mit Angela Merkel in der Flüchtlingsdebatte. Deshalb ist es natürlich in erster Linie er, dem die CSU ihr Wahldesaster zu verdanken hat. Gut möglich, dass die Wahlniederlage nun auch das Ende der Ära Seehofer eingeläutet hat. Doch schon am Tag nach der Wahl erzählte der CSU-Chef, er fühle sich „sauwohl“. Und: „Immer, wenn’s etwas spannender wird, steigert sich meine Befindlichkeit zum Positiven.“

Der Mann liebt das Spiel, gibt gern den Rätselhaften und ist immer für eine Überraschung gut. Seehofer, der Stratege mit dem großen Weitblick und Plan, dem das gemeine Fußvolk gedanklich halt nicht immer folgen kann. So stellt sich der Politiker selbst gern dar, der andere wahlweise auch gern mal als „Kleinstrategen“, „Leichtma­trosen“, „Mickymäuse“ oder „Kindergarten“ verspottet.

Stratege Seehofer? Nein, sagt Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld, das sei der CSU-Chef nun wirklich nicht. Ein begabter Machtspieler, ein routinierter Taktiker, das ja. Ansonsten vor allem Opportunist.

Wenn es für Seehofer doch rote Linien gibt, so in der Sozialpolitik. Arbeiterkind bleibt Arbeiterkind. Immerhin hat Seehofer schon einmal hingeschmissen – vor 13 Jahren, als Vizefraktionsvorsitzender von CDU/CSU. Aus politischer Überzeugung, nicht weil andere ihn loswerden wollten. Zu der Zeit war Schröder noch Kanzler und Merkel Unionsfraktionsvorsitzende. Und Verfechterin der Kopfpauschale. Seehofer dagegen ein erklärter Gegner. Als sie sich durchsetzte, trat er zurück. Als er dann bei der Wahl 2005 bundesweit die meisten Erststimmen bekam, blieb er doch in der Politik – als Landwirtschaftsminister unter Merkel. Dass heute kein Mensch mehr von der Kopfpauschale spricht, gehört zu den größten Genugtuungen Seehofers.

Sollte in ein paar Jahren in Bayern niemand mehr von Markus Söder sprechen, so wäre das eine weitere Genugtuung. „Ob’s gelingt? Mal sehen“, sagt Seehofer und meint damit natürlich nur die Arbeit seiner Findungskommission. So gilt weiterhin sein Wort: „Alles ist denkbar – und auch das Gegenteil.“