Die Geister, die ich rief

Das bat-Studiotheater zeigt am 21. November einmalig Virtual-Reality-Experimenteim Theaterkontext. Eine Art Geburtshilfe für eine noch junge Technologie

Schiller im virtuellen Raum? Keine Zukunftsmusik Foto: CyberRäuber

Von Tom Mustroph

Einst dienten Masken zum Versteck. Der Karneval von Venedig etwa bot unter dem Schutz der Masken Adligen, Bürgern und dem Pöbel Gelegenheit zu Abenteuern aller Art. Friedrich Schillers Romanfragment „Der Geisterseher“, dessen Handlungsort der venezianische Karneval ist, wurde im Rahmen der Schillertage in Mannheim genutzt, um die Funktion der Masken im Zeichen der neuen VR-Technologie zu verwandeln. Die Masken sind nun Brillen, mit denen man in die Virtual-Reality-Umgebung des „Geistersehers“ eintauchen kann.

Die VR-Pioniere Björn Lengers und Marcel Karnapke, bekannt unter dem Label CyberRäuber, hatten im letzten Jahr schon Szenen aus Schillers Dramenerstling „Die Räuber“ digitalisiert und virtualisiert. Dabei konnte man, mit VR-Brille ausgestattet, mitten in eine Szene zwischen Amalia und Franz Moor hineinplatzen, ja sogar in die virtuellen Figuren selbst hineinschlüpfen und sich in einem Raumexperiment auch über eine Stadt erheben.

Beim „Geisterseher“ ist der narrative Faden jetzt komplexer geknüpft. Hauptheld ist ein Prinz, der in eine Geheimgesellschaft gerät, die ihm Macht, Reichtum und Wissen verspricht und ihm die Fähigkeit verleiht, mit Geistern und Verstorbenen zu kommunizieren. Schiller schrieb die Geschichte einst als Fortsetzungsroman. Die Geheimgesellschaft – eine reaktionäre katholische Verschwörung – kann man als Gegenmodell zur „freiheitlichen“ Verschwörung im „Don Carlos“ auffassen, an dem Schiller zeitgleich schrieb.

In der 15-minütigen „Geis­terseher“-Miniatur bezaubert – wie schon in der „Räuber“-Produktion zuvor – die unmittelbare Konfrontation mit den virtuellen Gestalten. Man kann sich ihnen zwanglos nähern, sie von allen Seiten betrachten, sich zwischen sie stellen und ihre Positionen einnehmen. Lengers und Karnapke gehen jetzt virtuoser mit der digitalen „Natur“ ihrer Figuren um als zuvor. Sie weichen stärker vom Fotorealismus ab, der in Teilen noch die „Räuber“ prägte, und lassen jetzt die Protagonisten mitunter regelrecht zerfließen. Auch schaffen sie mit digitaler Nebel-„Materie“ angereicherte Räume, die einen Eindruck von körperlicher Dichte erzeugen, selbst wenn die Informationen nur über den visuellen Kanal aufgenommen werden. Das alles ist durchaus reizvoll und bietet Einblicke in die Möglichkeiten, die die neuen VR-Technologien dem alten Theater bieten könnten.

Freilich erinnert der „Geisterseher“, der am 21. November zwischen 17 und 22 Uhr im bat-Studiotheater präsentiert wird (Anmeldung unter geisterseherbat@gmail.com erforderlich), zuweilen an die ersten Automobile, die vom Design her noch ihrer Vorgängertechnologie, der Kutsche, glichen – nur dass ihnen lediglich die Pferde abhanden gekommen waren. Die Schauspieler etwa pflegen leider den hohen Theaterton. Der Raum ist selten mehr als Kulisse – alles „Kinderkrankheiten“ bei der Erforschung eines neuen Mediums.

Aufs Dach steigen

In einer anderen Arbeit, einer VR-Transformation der zum Theatertreffen eingeladenen „Borderline Prozession“ des Schauspiels Dortmund, experimentieren Lengers und Co. stärker mit der Raumgestaltung. Der komplette Theaterraum wurde dank einem Laserscan virtualisiert. Der mit VR-Brille ausgestattete Besucher kann auf der Zuschauertribüne Platz nehmen, aber auch über die Bühne wandern, das Technikpult besetzen und sogar aufs Dach steigen. Immer wieder eröffnen sich neue Räume, die zum Teil von digitalisierten Performern bespielt werden.

Lengers, im Hauptberuf Betreiber einer Firma für Datenanalyse in Berlin, sieht eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten der VR-Technologie im Theater. „Man kann ganz neue Ästhetiken und Beteiligungsformate entwickeln“, sagt er. „VR ist aber auch zu Dokumentations- und Marketingzwecken einsetzbar. In den Foyers der Stadttheater könnten VR-Miniaturen von Inszenierungen von Theatern aus anderen Städten zu sehen sein – so könnten die geografischen Distanzen aufgehoben werden.“

Das größte Potenzial hat die Technik, bezogen auf das Theater, wohl als Augmented Reality, im Wechselspiel von virtuellen und physischen Realräumen. Lengers experimentierte damit bereits im Rahmen des Festivals „Digital Playground“ in Bern, als Teilnehmer ohne Brille einen in VR-Welten abgetauchten Mitspieler wieder aus dem virtuellen Raum hervorholten. Für den Menschen mit der Brille war die physische Interaktion wiederum in einen eigenen narrativen Kontext integriert.