Neuland Minderheitsregierung

Wer bestimmt, ob sie kommt? Verändert sie die Demokratie? Kann auch Wagenknecht Kanzlerin werden? Und die AfD? Die zehn wichtigsten Antworten

Neu im Bundestag: die AfD-Fraktion Foto: Markus Schreiber/ap

Von Martin Reeh,
Tobias Schulze
und Reinhard Wolff

1. Wer entscheidet, ob und welche Minderheitsregierung gebildet wird?

Der Weg zur Regierungsbildung läuft nur über den Bundespräsidenten: Er muss laut Artikel 63 des Grundgesetzes dem Bundestag einen Kandidaten für die Kanzlerwahl vorschlagen. Dieser bräuchte im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit. Plant zum Beispiel Angela Merkel eine Minderheitsregierung, hat sie an dieser Stelle zwei Möglichkeiten. Sie könnte andere Fraktionen dazu überreden, im Bundestag für sie zu stimmen, ohne hinterher eine Koalition zu bilden. Sie wäre dann im ersten Wahlgang gewählt, müsste hinterher aber trotzdem für jede Entscheidung eine neue Mehrheit im Bundestag suchen. Die zweite Möglichkeit: Sie bekommt im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit und in der darauf folgenden zweiten Wahlphase auch nicht. Nach zwei Wochen stünde dann ein letzter Wahlgang an, in dem die relative Mehrheit der Stimmen reicht. Wenn sie diese erreicht, muss der Bundespräsident noch mal zustimmen: Er kann sie jetzt zur Kanzlerin ernennen, sie müsste dann aber wieder für alle kommenden Entscheidungen neue Mehrheiten im Bundestag suchen. Ist dem Bundespräsidenten diese Variante zu unsicher, kann er das Parlament auflösen. Es gäbe Neuwahlen. Bis zu einer Koalitionsbildung bliebe die alte Regierung weiterhin geschäftsführend im Amt.

2. Welche Modelle gibt es?

Zwei Varianten einer Minderheitsregierung sind denkbar: Erstens kann eine der Opposi­tionsparteien die dauerhafte Tolerierung einer Regierung zusichern. Sie muss sich dann bei allen entscheidenden Abstimmungen über Regierungsentwürfe enthalten oder zustimmen. Das Modell bietet sich entweder für besonders radikale Parteien an, die noch als zu schmuddelig gelten, um Regierungsämter zu besetzen, aber trotzdem schon einmal ihre Verantwortungsbereitschaft unter Beweis stellen wollen (wie die PDS in den neunziger Jahren). Oder für staatstragendere Parteien, die für ihre Mitarbeit in früheren Koalitionen von Wählern abgestraft wurden und glauben, diese Gefahr wäre bei der Tolerierung einer Minderheitsregierung weniger groß (SPD). In der zweiten Variante muss sich die Regierung für jedes Vorhaben Mehrheiten unter den anderen Fraktionen suchen.

3. Gab es das schon mal in Deutschland?

Auf Bundesebene nie, aber dreimal in den Ländern: Von 1992 bis 2002 tolerierte die PDS eine SPD-geführte Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt (das sogenannte Magdeburger Modell), von 2001 bis 2002 die Berliner PDS einen rot-grünen Senat, der bis zu Neuwahlen vorübergehend im Amt war. Und von 2010 bis 2012 regierte Rot-Grün unter Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen ohne Koalitionsmehrheit. Als langfristig erfolgreich gilt keines der Experimente. In Sachsen-Anhalt verlor die SPD 2002 nach der zweiten Wahlperiode fast 16 Prozent, die PDS gewann ein knappes Prozent. Das Tolerierungsmodell hatte vor allem der Regierungspartei geschadet, die für die Sparpolitik von den Wählern alleine verantwortlich gemacht wurde. In Nordrhein-Westfalen beendeten SPD und Grüne 2012 ihre Minderheitsregierung 2012, die sich zuvor bei CDU, FDP und Linkspartei wechselnde Mehrheiten gesichert hatten. Das schien nicht mehr attraktiv, als die Umfragen für Rot-Grün günstig waren. Die Linkspartei flog bei den Neuwahlen aus dem Landtag, Rot-Grün hatte die absolute Mehrheit.

4. Welche Erfahrungen haben andere Länder gemacht?

In Norwegen, Schweden und Dänemark sind Minderheitsregierungen die Regel. Schweden wurde sieben Jahrzehnte lang fast durchweg von sozialdemokratischen Minderheitsregierungen regiert. In Dänemark gab es in mehr als drei Jahrzehnten nur eine – kurzlebige – Mehrheitsregierung. Aktuell will Norwegens konservative Regierungschefin Erna Solberg wieder eine Koalition mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei bilden. Eine „Kanzlermehrheit“ wird sie ebenso wenig brauchen wie vor drei Jahren in Stockholm Stefan Löfven, als er mit seiner rot-grünen Regierung an den Start ging, die nur 138 der 359 Parlamentssitze hat. Entscheidend ist, dass sich keine Mehrheit gegen eine solche Regierung findet. In Skandinavien herrscht noch ein sehr starkes Rechts-links-Lagerdenken. Die Grundregel lautet: Die größte Partei erhält den Regierungsauftrag – mit mehr oder weniger festen Zusammenarbeitspartnern. Meist nur einmal im Jahr wird NorwegerInnen, DänInnen oder SchwedInnen bewusst, dass sie eine Minderheitsregierung haben: Bei den jährlichen Budgetverhandlungen kann es etwas heißer hergehen. Aber dann müssen eben Kompromisse gefunden werden. Wenn es um größere Reformvorhaben geht, schnüren beispielsweise in Schweden alle Parteien gerne ein langfristig geltendes Paket zusammen, das dann unabhängig von Regierungswechseln Bestand hat.

5. Hätte die deutsche Regierung noch das nötige Standing?

Das hängt davon ab. Bei einem Tolerierungsmodell mit gesicherten Mehrheiten sicherlich. Müsste sich die Bundesregierung die Mehrheiten etwa bei Beschlüssen zum Euro erst mühsam zusammensuchen oder bekäme sie manchmal nicht, sähe es anders aus. Deutschland hat im Gegensatz zu den USA kein Präsidialsystem, hierzulande muss die Kanzlerin vieles ins Parlament bringen, was der US-Präsident alleine beschließen kann. Barack Obama hatte daher selbst dann immer ein gutes internationales Standing, als beide Häuser des Kongresses in republikanischer Hand waren. Merkel wäre dagegen ohne parlamentarische Mehrheit eine lame duck. Andererseits: Vielleicht wäre das Standing der Deutschen international ja besser, wenn der Bundestag keine Beschlüsse mehr fassen könnte, mit denen Griechenland zu Tode gespart wird.

6. Würde sich die Mehrheitsfindung dramatisch ändern?

Eine Minderheitsregierung müsste ständig um Kompromisse mit den übrigen Parteien ringen. Ob neue Gesetze, der Bundeshaushalt oder Mandate für Bundeswehreinsätze: Der Bundestag müsste ja nach wie vor zustimmen, die Regierung hätte aber keine eigene Mehrheit. Noch schwieriger wird es bei Gesetzen, die der Bundesrat abnicken muss: In diesen Fällen müsste die Regierung schließlich gleich in zwei Parlamentskammern ihre Mehrheiten organisieren. Etwas Freiraum kann sich eine Minderheitsregierung verschaffen, indem sie statt auf Gesetze auf Verordnungen setzt. Diesen muss der Bundestag nicht zustimmen. Das Grundgesetz lässt den Weg aber nur für bestimmte Vorhaben zu. Manche Minderheitsregierungen lösen das Problem der fehlenden Mehrheit dadurch, dass sie sich von anderen Fraktionen tolerieren lassen. Theoretisch könnte also die Union die Minderheitsregierung stellen, die SPD sagt aber von Anfang an zu, ihr bei Gesetzesinitiativen immer zuzustimmen. In der Praxis haben die Sozialdemokraten an so einer Konstellation aber voraussichtlich kein Interesse, auch bei den anderen Fraktionen werden CDU und CSU wohl kaum Erfolg haben. Dieses Modell scheidet also wahrscheinlich aus.

7. Welche Vorteile hätten wechselnde Mehrheiten?

Sie sind zunächst einmal demokratischer. Parteien werden nicht mehr gezwungen, gegen ihre Überzeugungen zu stimmen, um dem Koalitionspartner einen Gefallen zu tun. Die Unterschiede zwischen den Parteien bleiben so deutlicher, Populisten wird damit ein Teil ihrer Argumentationsgrundlage entzogen. Auch die politische Debatte würde offener. Die scheinbare Notwendigkeit, einen Konsens mit einem Koalitionspartner als etwas zu verkünden, was man selbst schon immer gewollt hat, wäre geringer. Und bestimmte Vorhaben wie eine funktionierende Mietpreisbremse wären längst Gesetz, wenn sich die SPD im letzten Bundestag getraut hätte, ihre Mehrheit mit Grünen und Linkspartei auszunutzen.

8. Und die Nachteile?

Auch die AfD bekäme vermutlich einen Teil ihrer Anliegen durch. Ausnahme: Wenn sich alle Parteien auf einen Konsens der Demokraten verständigen, keine Anträge einzubringen, die nur mit AfD-Zustimmung sicher angenommen werden. Dann aber bräche vermutlich auch eine neue Debatte los, ob dasselbe nicht auch für Anträge der Linkspartei gelten soll. Der größte Nachteil ist aber, dass Deutschland mit dem Bundesrat schon eine zweite Kammer hat, die viele Reformvorhaben blockiert. Die Bürgerversicherung etwa ist zuverlässig stets an der Unionsmehrheit im Bundesrat gescheitert und wird deshalb wohl niemals kommen. Käme nun noch eine komplizierte Mehrheitsfindung im Bundestag dazu, wären Gesetzesvorhaben noch schwieriger. Deutschland würde vermutlich erstarrt das verwalten, was schon da ist. Um Populisten die Argumentationsgrundlage zu nehmen und die Unterschiede zwischen verschiedenen Parteien deutlicher zu machen, wäre es vermutlich sinnvoller, die Bundesrats-Kompetenzen zu beschneiden statt eine Minderheitsregierung wechselnde Mehrheiten suchen zu lassen. Mehrheiten dafür sind aber nicht in Sicht.

9. Könnte auch Schulz Minderheitskanzler werden?

Rot-Rot-Grün hat im Bundestag zusammen mehr Stimmen als die Union alleine. Im dritten Wahlgang reicht die relative Mehrheit der Stimmen. Würde Schulz dann kandidieren und auch Grüne und Linke für ihn stimmen, während die Union Merkel wählt und AfD und FDP sich enthalten, wäre Schulz Kanzler – falls der Bundespräsident ihn ernennt (was er nicht muss, wenn der Kandidat nur eine relative Mehrheit bekommt). Andererseits: Die Grünen lieben derzeit eher Merkel, die Linken würden Schulz wohl nur unter Vorbedingungen wählen, die Schulz nicht erfüllen kann, eben weil er nur Minderheitskanzler würde. Und linke Gesetze gäbe es auch unter Schulz kaum – für eine Gesetzgebungsmehrheit müsste sich Schulz immer noch die Zustimmung bei Union oder FDP holen. Schulz wäre Kanzler ohne Land.

10. Wie wahrscheinlich ist das Ganze also?

Nicht sonderlich. Minderheitsregierungen ohne feste Mehrheiten funktionieren am besten, wenn es einen starken Kanzler gibt. So ließe sich auch mit der Tradition, keine Minderheitsregierung zu bilden, brechen. Deshalb konnte Hannelore Kraft (SPD) 2010 das Risiko einer Minderheitsregierung in NRW eingehen. Angela Merkel ist aber auf dem absteigenden Ast: Bei der Bundestagswahl verlor die Union über 8 Prozentpunkte, die Jamaika-Koalition platzte. Sowohl FDP als auch SPD dürften versucht sein, die Union bei Gesetzesvorhaben auflaufen zu lassen und Merkel aus dem Amt zu treiben. Nicht viel, aber doch ein wenig wahrscheinlicher ist eine dauerhafte Tolerierung. Nämlich dann, wenn die SPD Panik vor Neuwahlen bekäme, weil Martin Schulz schon bei der letzten Wahl nicht überzeugt hat und andere potenzielle Kandidaten wie Andrea Nahles fürchten, noch schlechter abzuschneiden. Eine Tolerierung der CDU/CSU-Regierung böte der SPD die Chance, ihr Versprechen zu halten, keine Koalition einzugehen – und sich dennoch nicht selbst dem Wählervotum stellen zu müssen. Aber für Merkel dürften Neuwahlen dennoch der bessere Ausweg sein: Danach wäre die SPD wohl wieder zu einer Koalition bereit.