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Auf den Spuren Peer Gynts

Durch eine Welt der Sagen, Mythen und Legenden: Skiwandern im Rondane-Nationalpark in Norwegens mittlerem Osten darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und man sollte wissen, wie man Schneehöhlen buddelt

Eine Landschaft, die keine Kompromisse duldet, vor allem nicht im Winter: Rondslottet und Furusjøen im Nationalpark Rondane Foto: Sönke Möhl/dpa

Von Sven-Michael Veit

Spätabends schälen sich rotierende gelbe Lichter durch das Schneegestöber. Da sitzen wir schon frisch geduscht und gesättigt in der Berghütte von Venabu bei einem kühlen Bier nach diesem Tag im Schneesturm, sechs Stunden bei schlechter Sicht und heftigen Minusgraden. „Der Rettungs-Scooter“, sagt Nils. „Wahrscheinlich müssen sie jemanden ausgraben.“

Fünf Tage haben wir gebraucht von Høvringen bis in diese wohlige Wärme am Kamin, fünf Tage auf Skiern von Hütte zu Hütte durch den Rondane-Nationalpark, über zugefrorene Seen und endlos scheinende Hochebenen, vorbei an hochalpinen Gipfeln. Fast 2.200 Meter ragen die beiden höchsten Spitzen dieser norwegischen Gebirgslandschaft nördlich der Olympiastadt Lillehammer auf, der Storronden und der Rondslottet, zwei gewaltige Gipfel mit steilen Hängen und zerklüfteten Graten.

Wir haben uns oberhalb der Baumgrenze auf 1.000 bis 1.200 Metern bewegt, etwa 100 Kilometer mit vollem Rucksack durch Eis und Schnee, Sturm und Sonne in dieser Welt der Sagen, Mythen und Legenden oberhalb des Gudbrandsdalen, mit 320 Kilometern das längste Tal Norwegens, durchströmt vom Lågen, einem der längsten Flüsse Skandinaviens.

Hier im mittleren Osten Norwegens spielt eines der Hauptwerke der norwegischen Literatur, die Romantrilogie „Kristin Lavransdatter“, für die Sigrid Unset 1928 den Literatur-Nobelpreis erhielt. Der „Peer Gynt“ des Henrik Ibsen soll hier im 18. Jahrhundert gelebt haben, sein angeblicher Hof und ein echter Gedenkstein stehen in Vinstra, wo auch der Wanderweg Peer-Gynt-Vegen zum Rondaneblikk beginnt. Und der Gudbrandsdalost wurde hier erfunden, dieser braune Käsequader aus Kuh- und Ziegenmilch, den man nur hassen oder lieben kann. Dazwischen gibt es nichts, und das ist charakteristisch für Norwegen, für diese Landschaft, die keine Kompromisse duldet. Vor allem nicht im Winter.

Acht Leute sind wir, die sich vorher nicht kannten, drei NorwegerInnen, ein holländisches Paar, eine Dänin, Claudia und ich. Das Gefühl, sich da draußen aufeinander verlassen zu können, haben wir erst entwickeln müssen. Und Nils, der erfahrene Bergführer, hat uns gezeigt, wie man Schutzhöhlen gräbt, für den Fall der Fälle.

Eine tiefe Schneewehe an einem Hang eignet sich am besten, beim Graben wechseln wir uns alle paar Minuten ab, damit niemand friert. Drei niedrige Stollen in drei Meter Abstand in die Schneewehe treiben, dazu zwei höhere Querverbindungen. Die beiden äußeren Gänge werden von innen wieder verschlossen: Ein „T“ ist entstanden mit zwei Räumen für Menschen und Gepäck. Die Decke abrunden, damit Kondenswasser seitwärts herunterläuft und nicht von oben auf die Schlafsäcke tropft, den Eingang mit Skiern, einer Plane und Schneeballast verschließen. Wichtig ist natürlich ein Luftloch, so groß wie ein Skiteller, von Skistöcken vor dem Zuschneien gesichert. Gemütlich soll es da drinnen sein, wenn draußen der Schneesturm tobt.

Nils, Mitte 50, ist pensionierter Feldwebel der norwegischen Gebirgsjäger. Mit dem Kasernenhofton hält er sich zurück, aber von Disziplin hält er viel. Unterwegs legt er pünktlich jede Stunde eine kurze Trinkpause im Stehen ein, egal, wo wir uns gerade befinden. Einmal, vielleicht 200 Meter vor dem großen See Furusjøen, den Claudia und ich aus einem Sommerurlaub kennen, erdreiste ich mich, ihn auf die schönen Hütten am Ufer hinzuweisen, wo wir bequem rasten könnten. Nils schüttelt den Kopf: „Nei.“ Trinkpause ist nach Uhrzeit, nicht nach Gutdünken.

Jeden Abend sitzt er über seiner topografischen Karte, Maßstab 1:25.000, mit Höhenringen im Zehn-Meter-Abstand. Mit Lineal und Kompass errechnet er die Route für den kommenden Tag und zeichnet sie ein, vermerkt bei jeder Kursänderung die Winkelgrade, vermisst die Länge jedes einzelnen Abschnitts, und seien es auch nur 50 Meter. Ich finde das pedantisch, wir laufen ja schließlich nicht mit verbundenen Augen.

Claudia und ich sind erfahrene Skiwanderer, seit vielen Jahren laufen wir regelmäßig in der norwegischen Hardangervidda, der größten Hochgebirgsebene Europas, halb so groß wie Schleswig-Holstein, auf eigene Faust durch Schnee und Eis, keulen Hänge rauf und sausen sie wieder runter. Richtig verlaufen haben wir uns selbst in Schneestürmen nie. Mal 100 Meter zu weit links oder rechts, aber das ließ sich immer problemlos korrigieren. Nils jedoch geht nicht das geringste Risiko ein – aber bestimmt nur aus Verantwortungsgefühl für die ihm anvertraute Gruppe.

Der Scooter kommt zurück. Zwei Skiwanderer hat er gebracht, berichtet Nils. Sie hätten in der Weiße der Nacht die Orientierung verloren und per Handy die Bergrettung alarmiert. Dass sie da draußen ein Netz hatten, ist nicht selbstverständlich in den menschenleeren Weiten der norwegischen Hochgebirge. Glück gehabt, die beiden.

Ab Kiel per Schiff nach Oslo (www.colorline.de) oder per Flugzeug mehrmals täglich von Hamburg nach Oslo-Gardermoen. Weiterreise mit Bahn oder Bus über Lillehammer nach Ringebu, Vinstra, Otta oder Dovre.

Für die Wanderhütten braucht man einen DNT-Schlüssel. Er wird nur an Mitglieder des DNT verliehen, eine Jahresmitgliedschaft ist möglich. Kontakt über www.turistforeningen.no

Reisezeit Winter: Von Mitte November bis Ende März ist Rondane schneesicher.

Reisezeit Sommer: Nach Ostern werden die Hütten meist geschlossen: die Rentiere kalben und der Schnee schmilzt. Wegen des Tauwetters ist Rondane frühestens ab Mitte Juni begehbar, Ende September wird es wieder ungemütlich.

Allgemeine Infos: Norwegisches Fremdenverkehrsamt: www.visitnorway.com

Wir witzeln über die vorige Nacht in Eldabu, einer typischen Selbstbedienungshütte der norwegischen Touristenvereinigung DNT, mehr als 20 Kilometer von der nächsten menschlichen Ansiedlung entfernt: ein schmuckloses Holzhaus mit ein paar Kojen, Tisch und Herd. Holzscheite und Kerzen liegen bereit, dazu Konserven, Kaffee, eingeschweißtes Brot. Man nimmt, was man braucht, legt das Geld in die Kasse. Wasser zum Kochen und Waschen muss eimerweise herangeschleppt werden aus dem Eisloch unten am Bach, das Plumpsklo ist draußen im Schuppen.

Wir belegen, nach Männern und Frauen getrennt, die beiden großen Zimmer mit je vier Doppelstockbetten. Nach uns kommen noch vier Norweger. Zwei teilen sich ein Bett im letzten, winzigen Zimmer, einer improvisiert sich ein Lager im Flur, einer nächtigt auf der Küchenbank. In der norwegischen Wildnis wird kein müder Wanderer abgewiesen, das ist unverbrüchliche Tradition – weil überlebensnotwendig.

An einem strahlenden Sonnentag waren wir gestern am späten Nachmittag nach Eldabu gekommen Die Abendsonne schien auf das Thermometer neben der Eingangstür, es zeigte plus 12 Grad. Mit der untergehenden Sonne stürzte die Quecksilbersäule ins Bodenlose, minus 15 Grad waren es nach wenigen Minuten, bei minus 22 ging ich rein. Die Nacht muss erbärmlich kalt gewesen sein, heute früh waren es immer noch minus 27 Grad gewesen. Niemand, so gestehen wir uns, hatte sich mitten in der Nacht aus dem warmen Schlafsack gepellt, um zum Pinkeln durch hüfthohen Schnee über den Hof zum Schuppen zu stapfen, alle hatten es sich verkniffen.

Zwei Schweden habe der Scooter retten müssen, hat Nils inzwischen in Erfahrung gebracht, Miene und Tonfall deuten an, dass Norweger natürlich niemals in eine solche Notlage gekommen wären. Aus einer amateurhaft gegrabenen Schneehöhle seien sie geborgen worden, berichtet Nils; erschöpft, unterkühlt und wohl auch mit kleineren Erfrierungen wurden sie runter ins Tal in die nächste Klinik gebracht. Nur wenige hundert Meter von Eldabu entfernt, unserem letzten Quartier, waren die beiden von den Bergrettern gefunden worden: Sie hatten im Sturm die Hütte nicht gefunden.

Vielleicht ist Nils doch gar nicht so pedantisch.