Der Computer soll es richten

Beim Thema Abbiegeunfälle hofft die Verkehrsbranche auf automatische Systeme. Denn das Verkehrsgeschehen überfordert die LKW-Fahrer. Und die einfachste adhoc-Lösung, ein Beifahrer, ist den Spediteuren zu teuer

Gewarnt sind alle - aber noch gibt es keine Lösung für die gefährlichen Abbiege-Unfälle Foto: Arno Burgi/dpa

Von Gernot Knödler

Der Fall ist typisch: Ein LKW-Fahrer übersieht einen geradeaus fahrenden Radler beim Rechtsabbiegen. Es kommt zur Kollision. Der Radler gerät unter den Laster. Er wird überrollt und stirbt. So geschehen Ende November im schleswig-holsteinischen Uetersen. Der Radfahrer wurde 35 Jahre alt.

Die Statistik für 2017 steht noch aus. 2016 hat es nach Angaben des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) bundesweit 33 solcher Unfälle gegeben. Knapp jeder zehnte tödlich verunglückte Radfahrer starb auf diese Weise. Dabei steht das Problem schon seit Jahren auf der Tagesordnung der Politik und der einschlägigen Verbände.

Seit 2009 ist für alle Lastwagen mit mehr als 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht ein ganzes Set von Spiegeln vorgeschrieben, das eine Rundumsicht ermöglichen soll. Trotzdem hat diese Art von Unfällen nicht wesentlich abgenommen. Hilfe erhofft sich die Branche von elektronischen Abbiegeassistenten. Bisher bietet nur ein LKW-Hersteller ein solches System an.

„Sideguard Assist“ von Daimler sei leider noch unvollkommen, sagt Siegfried Brockmann von der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Zum einen eigne sich das radargestützte System nur für Laster mit Standardaufbauten, nicht aber etwa für Müllfahrzeuge oder Kipper. „50 Prozent der schweren LKW-Abbiegeunfälle entfallen auf diese Sonderaufbauten“, sagt Brockmann.

Dazu komme, dass das System nicht automatisch bremse, sondern den Fahrer bloß warne. Für einen Fahrer, der einen Radler im Spiegel übersehen habe, sei das zu spät. Der stehe auf dem Gas und habe eine Reaktionszeit von mindestens einer Sekunde. „Da kann die Achse den fallenden Radler schon überrollt haben“, sagt der Unfallforscher.Die seit rund zehn Jahren vorgeschriebenen Spiegel seien trügerisch. „LKWs haben keinen toten Winkel, wenn alle stehen“, sagt Brockmann. „In Bewegung sieht das anders aus.“

Der Fahrer habe vielleicht die neben ihm stehenden Radler im Blick, aber während er seine Maschine in Bewegung setze und auf die Fußgänger achten müsse, kämen weitere Radler von hinten angesaust. Dabei müsse er zwei Fenster und drei Spiegel im Blick behalten. „Das ist fahrpsychologisch unmöglich zu stemmen“, sagt Brockmann.

Aus diesem Grund seien auch Kamera-Monitor-Systeme keine Lösung, findet der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) und fordert den Abbiegeassistenten. Die Unfallfolgen sind nicht nur für die überfahrenen Fußgänger und Radfahrer dramatisch, auch der Fahrer gehört zu den Betroffenen. „Er muss für den Rest seines Lebens das Wissen um den Unfall ertragen“, sagt BGL-Sprecher Martin Bulheller. Nach den Erfahrungen der Berufsgenossenschaft Verkehr sind manche Fahrer so traumatisiert, dass sie ihren Beruf aufgeben müssen.

Das Interesse ist also von verschiedenen Seiten groß, Abbiegeassistenten mit Notbremsfunktion einzuführen. Die Forderung findet sich in einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. November. Es fordert die EU-Kommission auf, „den Einbau von Notbremsassistenten mit Fußgänger-, Radfahrer, Kleinkraftrad- und Motorradfahrererkennung in PKW, leichten Nutzfahrzeugen, Bussen und insbesondere LKW vorzuschreiben“.

Die Bundesregierung hat der UN-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) einen Vorschlag unterbreitet, wie solche Systeme aussehen könnten und welche Spezifikationen sie erfüllen müssten. Der BGL hat das nach eigener Aussage mit auf den Weg gebracht.Doch solange trotz aller Spekulationen über das wesentlich komplexere autonome Fahren keine technischen Lösungen existieren, müssen sich die Speditionen mit Low-Tech-Lösungen behelfen. Die BG Verkehr hat farbige Planen entwickelt, die an den LKW angelegt werden und die der Fahrer sehen können muss, wenn die Spiegel korrekt eingestellt sind. „Das Problem ist, dass der Fahrer morgens keine Zeit hat“, sagt der Unfallforscher Brockmann. Es komme also darauf an, dass der Spediteur darauf Wert lege.

Dazu komme die Aufklärung der Radfahrer. Zwei Drittel der Radler, die mit rechtsabbiegenden Lastern kollidierten, sind nach Angaben der UDV Frauen, 40 Prozent 65 Jahre alt und älter. Besonders für sie gelte der Appell: „Im Zweifel warten“, sagt Brockmann. Er hält es auch für überlegenswert, statt in einer ganzen Stadt den Lastern das Rechtsabbiegen zu verwehren, dies nur an besonders gefährlichen Kreuzungen zu tun. Und er verweist auf eine naheliegende, aber ziemlich aussichtslose Ad-hoc-Lösung: einen Beifahrer. Aber der ist den Spediteuren zu teuer.