Glückwunsch

Wir gratulieren der Schriftstellerin Gudrun Pausewang zu ihrem 90. Geburtstag. Ihre Bücher, besonders „Die letzten Kinder von Schewenborn“ und „Die Wolke“ haben ganze Generationen von jungen Lesern bewegt, manche begeistert, andere traumatisiert. Eine Hommage – und eine Abrechnung

Foto: Frank Lukasseck/mauritius images

Da ist eine, die wollte nie in Watte packen, sondern in Worte. Und ihre Worte sind Mahnungen, denn nichts, und da hat Gudrun Pausewang, die am 3. März 1928 in Böhmen geboren wurde und jetzt neunzig Jahre alt wird, so recht, ist schlimmer, als gleichgültig den Ungerechtigkeiten der Welt gegenüber zu sein.

Ungefähr hundert Bücher hat Pausewang, die lange auch Lehrerin war – auch in Lateinamerika –, geschrieben, die meisten für Kinder und Jugendliche. Sie meint, dass sie im Schreiben ihre überbordende Fantasie bändigen kann, dass Schreiben ein Ventil sei, aber auch eine Plattform, von der aus sie mahnen kann, gegen alles, was Unheil und Unfreiheit über die Menschen bringt.

In einigen ihrer Bücher klärt sie über die Nazizeit auf. Sie hat sie erlebt. Auch die Flucht aus dem Osten. Sie beschreibt in den Romanen, was es mit den Menschen macht, in so einer Diktatur zu leben. Ihr bekanntestes Buch jedoch ist „Die Wolke“, geschrieben nach der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl. In dem Roman zeigt sie, dass der Verlust an Mitmenschlichkeit und die menschlichen Verwerfungen, die eine Havarie in einem Atomkraftwerk im dicht besiedelten Deutschland mit sich brächten, unerträglich wären.

Sie wollte, wenn sie von ihren Enkeln oder Urenkeln gefragt werde, was hast du gegen dieses oder jenes Unheil getan, nicht sagen müssen: Ich habe nichts getan. Gudrun Pausewang hat schreibend aufgeklärt. Was aber wirklich absurd ist, ist, dass sie für ihre moralische Aufrichtigkeit kritisiert wird, dass gesagt wird, sie schüre Angst, fahre auf dem Ticket der Schuld, traumatisiere Kinder. Vor allem Letzteres ist Quatsch. Die Wirklichkeit traumatisiert die Kinder und nicht die Literatur. Es ist kein Fehler, wenn Kinder wissen, in welcher Welt sie glücklicherweise gerade nicht leben und dass es gut ist, sich dafür einzusetzen, dass das so bleibt. Seit wann muss moralische Aufrichtigkeit im Wohlfühlmodus daherkommen? Das können doch nur jene verlangen, die wissen, dass sie nicht genug tun, um das, was schiefläuft, zu ändern. Die Welt ist schlecht, aber ich mache Party. Tanzend in den Abgrund, Titanic und so. Was soll das?

„Empört euch“, schrieb der Schriftsteller Stéphane Hessel neunzigjährig und wurde dafür gefeiert. Pausewang wurde auch gefeiert, sie hat unzählige Preise erhalten, aber ihre moralische Strenge wird oft, auf eine verbrämte Art, kritisch beäugt.

Pausewang habe das Private politisch gefasst und das Politische literarisch, wurde in der Laudatio bei der Jugendliteraturpreisverleihung 2017 gesagt. Ja, genau so. Und daran ist nichts, wirklich nichts falsch.

Es ist eine unglaubliche Leistung, sich treu zu bleiben, allen Angriffen zum Trotz. Herzlichen Glückwunsch, liebe Gudrun Pausewang, zu Ihrem 90. Geburtstag.Waltraud Schwab

Gudrun Pausewang, du hast mein Leben zerstört! Das ist die Variante einer Tocotronic-Songzeile, die garantiert jeder Mensch meiner Alters- und Sozialkohorte versteht, und zwar in jeder Hinsicht: So wie die um 1970 herum Geborenen die Weltuntergangsbücher von Gudrun Pausewang lesen mussten, hörten sie später auf dem Weg zum Flüggewerden (und weit darüber hinaus) Tocotronic. Denn wir sind die letzten Kinder von Schewenborn – und, hey, Gudrun: Wir haben überlebt! Tschernobyl, Aids, das Waldsterben und den Kalten Krieg.

Und das geradezu aggressiv gut gelaunt und höflich. Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter gerade noch verhindern konnte, dass ich im zarten Alter von sieben Jahren zum ersten Mal ein KZ besuchte – die Jungs und Mädels von der Christlichen Jugend hatten so einen Ausflug organisiert. Auf den Lehrplan hatte sie jedoch keinen Einfluss, und so kamen „Die letzten Kinder von Schewenborn“ in mein Kinderzimmer. Schlimmer als jeder Horrorschocker, den ich je heimlich im Fernsehen hätte anschauen können. Ausfallende Haarbüschel, dahinsiechende Erwachsene, und – wenn ich in der richtigen Schublade all der verdrängten Kindheitserinnerungen nachschaue – ein Junge im Rollstuhl, der sich angesichts von Fallout und drohendem Hunger- und Strahlentod einen Abhang hinunterstürzt. Hilfe! Wirklich. Nein! Das war zu viel. Als ob nicht schon alles schlimm genug gewesen wäre: das AKW Cattenom um die Ecke und Mülheim-Kärlich, US-Atomraketen in der nur fünfzig Kilometer entfernten US-Base, deren Jets den Schornstein der nahegelegenen Polizeikaserne als Ziel für ihre Tiefflugübungen nutzten. Und dann noch Gudrun!

Kein Wunder, dass die heutigen Eltern in meinem Alter so ein Bullerbü veranstalten. Das kann sicher auch nerven, ist aber doch ein geeigneteres Setting für eine gelungene Kindheit als der Spielplatz von Tschernobyl. Nein, unsere Kindheit in den Siebzigern und Achtzigern war kein „Safe Space“, dafür war zu viel 20. Jahrhundert um uns herum. Aber kann schwarze Pädagogik Menschen – und so auch die Welt – wirklich besser machen? Darf man Kindern eine Heidenangst einjagen, damit sie morgen auch ja Bio-Apfelbäumchen pflanzen?

Aber ach, liebe Gudrun Pausewang, trotzdem alles Gute zum 90. Geburtstag. Was uns nicht umbringt, macht uns härter, nicht? Martin Reichert