der rote faden
: Leben, lieben, sein – nichts geht mehr ohne Intensität

Foto: Helena Wimmer

Durch die Woche mit Robert Misik

In seinem berühmten Buch „Das Ende der Geschichte“ formulierte der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama einen eigentümlichen Gedanken: Es sei denkbar, dass die Geschichte wieder in Gang komme, wenn zu viel Langeweile um sich greife. Wir sind heute Zeugen von Geschehnissen, die diesen Gedanken verständlicher machen. Die liberale Demokratie, die auf marktwirtschaftlicher Ordnung basierte, etablierte einen Trott ohne Spannung. Regierungen wurden gewählt, abgewählt, neue gewählt, aber dieser demokratische Prozess war weitgehend ohne Intensität.

Bis dann plötzlich mit einem Mal alles in einem seltsamen Moment aus dem Lot geriet und innerhalb weniger Jahre in verschiedenen Demokratien die pluralistische Demokratie von ihren Feinden herausgefordert wurde.

Trott

Vielleicht auch, weil zu viel Stabilität einfach langweilig ist? Wir Menschen der Jetztzeit sind für den Trott nicht gemacht. Wenn nichts geschieht, sehnen wir uns danach, dass sich etwas ereignen möge.

Die amerikanische Großessayistin Susan Sontag, die man auch eine Ikone der Intensität nennen kann, hielt immer die Intensität des Erlebens hoch. Auch ein wüster, noch nie gedachter Gedanke kann diese Intensität bieten. Von „intellektueller Ekstase“ sprach Sontag. Das „Ideal der Intensität“ steht bei ihr der Langeweile gegenüber, der Abgedroschenheit, dem Alltäglichen, dem Zahmen.

Natürlich, man kann so ziemlich alles auf laue oder auf intensive Weise tun, von der Kunst über die Politik bis zur Lebensführung. Das Feld paradigmatischer Intensität ist aber immer noch die Liebe. Liebe ist etwas, schrieb der französische Philosoph Alain Badiou in seinem schmalen Büchlein „Lob der Liebe“, das für jeden das ausmacht, „was dem Leben Intensität und Bedeutung verleiht“. Sie ist ohne Risiko nicht zu haben.

Ekstase

Liebe überwältigt, sie ist ein Absturz, „to fall in love“ heißt es nicht zufällig im Englischen. Liebe ist der Rausch der Leidenschaft, der immer in abgrundtiefes Leiden abbiegen kann. Wir haben kulturelle Skripts im Kopf, die unser Bild von der Liebe immer schon modellieren: Bilder vom Beginner-Gefühl, von den Begegnungen, die alles infrage stellen, vom Triumph der Liebe über Widrigkeiten. Es sind alles Bilder von umstürzenden Momenten, eher selten Bilder von Dauer. Wie viele Hollywoodfilme gibt es über das Abenteuer des Beginns – und wie viele über die Hartnäckigkeit von Partnerschaften, die Jahrzehnte überdauern und Krisen meistern?

Wir haben Klischees im Kopf und immerzu die gleichen Begriffe auf der Zunge. Dass man sich nur in der Intensität „wirklich spürt“ und all das.

Obsession

Bei Suhrkamp kam gerade der bemerkenswerte Großessay von Tristan Garcia, einem französischen Philosophen, heraus mit dem schönen Titel „Das intensive Leben. Eine moderne Obsession“. Intensität verbinden wir heute mit Vitalität, mit vibes, wir leiden an der „niedrigen existenziellen Intensität“ des normalen westlichen Lebens, durch dessen Geschehnisse wir driften, ohne dass sich etwas ereignet, und erheben das „intensive Leben“ gerade deswegen zu einem „moralischen Ideal“.

Wer es nicht von selbst hinkriegt, für den oder die gibt es reichlich Hilfsmittel im Angebot, von Koks über Ecstasy bis MDMA. Der intensive Mensch als Gegenentwurf zum lauen Menschen. „Eine größere Lebensintensität ist stets eine Steigerung des Glücks“, schrieb schon Madame de Staël vor mehr als 200 Jahren. Über die populäre Kultur hat sich dieses Ideal in einen Imperativ der Moderne verwandelt, schreibt Garcia, „schnelles Leben, Entfesselung aller Empfindungen, das Verlangen, sich von den Intensitäten alles Kommenden durchzucken zu lassen, der Eindruck, dass der Lebenshöhepunkt in der Jugend liegt, dass die Erfahrung als Erwachsener nur eine Folge von Anpassungen und eine lange und langsame Verringerung der Lebensintensität ist“.

Lauheit

Nun ist gegen all das ja überhaupt nichts einzuwenden. Betrieb muss sein, damit man nicht in Langeweile erstickt, schrieb schon Johannes R. Becher, und in Brechts Mahagonny-Song heißt es: „Wo nichts los ist, kann man nicht leben.“ Zugleich aber haben solche kulturellen Skripts – gerade dann, wenn sie Ideale hochhalten, gegen die bei erster Betrachtung überhaupt nichts einzuwenden ist (bei der Auswahl zwischen Intensität und langweiligem Trott fällt uns die Wahl leicht) – einen Ideologieeffekt. Eine Spielart des „guten Lebens“ wird aufgewertet; und eine andere Spielart wird abgewertet, die der Dauer, die des langfristigen Engagements ohne große Höhepunkte.

Ein Lob der Lauheit soll hier auch nicht gesungen werden, aber vielleicht ist langsam eine Kritik des Intensitätskults genauso notwendig wie eine Kritik der Modephrasen Selbstverwirklichung, Kreativität oder Erfolg.

Nächste Woche Johanna Roth