der rote faden
: Wie aus Bürgern Antidemokraten werden

Foto: Helena Wimmer

Durch die Woche mit Robert Misik

Forscher des Berliner „Progressiven Zen­trums“ haben unlängst eine Studie veröffentlicht, die einiges Aufsehen erregt hat. Sie haben an 5.000 Wohnungstüren geklopft, und zwar vor allem in jenen Vierteln, in denen der Verdruss über die etablierte Politik besonders stark und der Anteil von AfD-Wählern entsprechend groß ist. 500 Leute konnten sie in längere Gespräche verwickeln. Nicht wenige von ihnen waren sogar froh, einmal richtig reden zu können – denn so oft kommt es ja nicht vor, dass sich jemand für sie interessiert. Und die Ergebnisse der Studie sind beredt.

Verlassensein

Das Resümee der Forscher hier in aller Kürze: Auch wenn in den öffentlichen Metadiskursen Themen wie „Migration“, „Ausländer“, „der Islam“ überwiegen, sind diese Themen den Leuten letztendlich eher unwichtig. Was sie dagegen beklagen, ist der Verlust an sozialen Netzwerken in ihrer Lebenswelt: dass sich die Politik aus den Wohnvierteln zurückgezogen hat, dass sie das Gefühl haben, dass sich niemand mehr für sie interessiert. „Viele Befragte glauben, dass sozial und geographisch Gesellschaftsräume entstanden sind, aus denen sich die Politik zurückgezogen hat“, heißt es in der Studie: „Es herrscht ein Gefühl des Verlassenseins.“

Die Thematiken, die am Boulevard für die dicken Schlagzeilen und Horrorgeschichten sorgen, unterstützen diese Deutung, die etwa seit der Flüchtlingskrise vor drei Jahren die Form folgender Assoziationskette annimmt: „Während sich für uns überhaupt niemand interessiert, wird Mi­gran­tinnen und Migranten sofort geholfen.“ Aber sobald man ein wenig an der Oberfläche kratzt, wird klar: Nicht dass Migranten geholfen wird, regt die Leute primär auf, sondern dass sie das Gefühl haben, dass ihnen nicht einmal jemand zuhört. Dass sich für sie niemand interessiert. Dass da niemand ist, der in der Nähe wäre, erreichbar wäre.

Das ist der Kern einer politisch-emotionalen Konstellation, die letztlich in aggressive Wut auf jede Form demokratischer oder, sagen wir: gewohnter Politik umschlägt.

Assoziationsketten

Etwas anderes kommt dann noch hinzu, das man erst einmal auch vollends verstehen muss: das Gefühl, dass Politik überhaupt nichts mehr tun kann. Insofern führen die Debatten über Re-Nationalisierung von Politik oder Internationalisierung auch völlig in die Irre. Meine These ist: Viele Bürger und Bürgerinnen haben einerseits den Eindruck, dass die national verfasste Politik kaum mehr etwas ausrichten kann, weil die Politiker Spielball internationaler Kräfte sind, die sie nicht mehr beherrschen können – aber aus dem gleichen Grund halten sie linke Blütenträume von einer supranationalen Einhegung des Turbokapitalismus für mindestens genauso illusionär. Überspitzt gesagt: Auf nationaler Ebene wird das nicht mehr gelingen – wegen der Globalisierung. Und auf internationaler Ebene wird es auch nicht gelingen – wegen der Globalisierung. Man traut der Politik nichts mehr zu. Und, ehrlich gesagt, auch nicht völlig zu Unrecht.

Es ist auch dieser Vertrauensverlust, der zu einem „Zerfall der Demokratie“ führt, wie ihn der Politikwissenschaftler Yascha Mounk in seinem gleichnamigen Buch analysiert. Denn wenn der Politik in den liberalen Demokratien nichts mehr zugetraut wird, dann gebiert das Ungeheuer.

Volkswille

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die vergangene Woche veröffentlicht wurde. Immer mehr Staaten, von Polen bis zur Türkei, geraten in autokratisches Fahrwasser, während die Demokratien unter Druck geraten.

Totengräber

Nicht dass aus den Bürgern und Bürgerinnen über Nacht Antidemokraten würden. Im Gegenteil. Es sind ja gerade die rechten Populisten, die, statt wie ihre Nazi-Vorgänger antidemokratische Parolen zu schwingen, eine wahre Demokratie versprechen, die dem „einfachen Volk“ endlich wieder eine Stimme gibt. Aber zunächst wird dann einmal alles angegriffen, was diesem ominösen Mehrheitswillen entgegensteht, von Minderheitenrechten bis zu öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die das Volk angeblich „umerziehen“ wollen. Danach kommt das institutionelle Netzwerk von Checks & Balances an die Reihe, das dem Durchregieren im Sinne eines Volkswillens ent­gegensteht, von den Verfassungsgerichten abwärts.

Die Angriffe werden flankiert von einer Rhe­torik, die die Verteidiger des liberalen Rechtsstaates zu Feinden des Volkes erklärt, was in der Summe zu einer aggressiv-gereizten Aufheizung der öffentlichen Rede und Gegenrede führt. So wird Schritt für Schritt aus einer Konstellation, die noch innerhalb des Rahmens der liberaldemokratischen Ordnung heranwelkt, ein Setting, das genau diese Ordnung zerstört. Oder: Aus Menschen, die nicht unbedingt Antidemokraten sein müssen, werden dann Totengräber der Demokratie.

Nächste Woche Klaus Raab