Kriminologe über schärfere Polizeigesetze: „Absolute Sicherheit gibt es nicht“

Ein Eingriff in die Grundrechte: Der Kriminologe Tobias Singelnstein erklärt, was hinter der Ausweitung polizeilicher Befugnisse in vielen Bundesländern steht.

Eine bewaffnete Spezialeinheit steht auf einer Straße in Hamburg

G20-Proteste in Hamburg: „Dass mit Gewehren bewaffnete Spezialeinheiten in solchen Situationen eingesetzt werden, kannte man vorher nicht unbedingt“, sagt Tobias Singelnstein Foto: Imago/Christian Mang

taz: Herr Singelnstein, viele Bundesländer verschärfen derzeit ihre Polizeigesetze. Warum sehen die Innenminister diese Notwendigkeit?

Tobias Singelnstein: Seit Anfang der 1990er Jahre sind die Polizeigesetze regelmäßig reformiert worden. Im Prinzip geht es dabei um eine Ausweitung der polizeilichen Befugnisse, was insbesondere damit zu tun hat, dass die Rolle der Polizei im Bereich der Sicherheitsproduktion wichtiger geworden ist.

Warum?

Individuelle Sicherheit, also die Sicherheit vor Bedrohung, Gefahr und Kriminalität, ist in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Die Menschen haben das Gefühl, in einer unsicheren Welt zu leben, obwohl wir eigentlich in einer der sichersten Gesellschaften leben, die wir kennen. Trotzdem fühlen die Leute sich bedrohter als früher. Die Politik versucht, darauf zu reagieren – unter anderem mit einer Ausweitung der gesetzlichen Befugnisse für die Polizei. Das Strafrecht kann immer nur auf Ereignisse reagieren, die schon passiert sind. Deshalb favorisiert die Politik mit der Ausweitung polizeilicher Befugnisse zunehmend ein präventives Vorgehen.

Hilft dieses präventive Vorgehen bei der Bekämpfung der Kriminalität?

Das generelle Problem bei diesen Formen der präventiven Intervention ist, dass man nur sehr ungenau vorhersehen kann, wann und wo etwas passieren wird. Das heißt: Man greift in Sachverhalte ein, bei denen man nur vermutet, dass sich vielleicht in Zukunft daraus eine gefährliche Situation entwickeln könnte. Diese Maßnahmen sind aber immer auch mit erheblichen Grundrechtseingriffen verbunden. Das ist aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht sehr problematisch.

In Sachsen beispielsweise kritisiert die Opposition am neuen Polizeigesetz die Ausweitung der Überwachung. Ist das eines der Probleme, das sie meinen?

Ja, die derzeitigen Reformen sind relativ typisch für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Bei der Überwachung haben wir heute im Prinzip alles, was nach der Strafprozessordnung möglich ist, auch in den Polizeigesetzen – teilweise sogar noch darüber hinaus. Telekommunikationsüberwachung und Videoüberwachung sind ein großer Bereich. Ein zweiter Aspekt, den ich für relativ typisch halte, ist die Vorverlagerung von Eingriffen durch die Polizei. Eigentlich ist im Polizeirecht für Grundrechtseingriffe grundsätzlich das Vorliegen einer konkreten Gefahr Voraussetzung. Einige der neuen Polizeigesetze regeln nun aber Maßnahmen, die sich gegen sogenannte Gefährder richten, also gegen Personen, bei denen noch keine konkrete Gefahr vorliegt. Das Wort Gefährder ist irreführend – denn bei diesen Personen liegt ja gerade noch keine Gefahr vor. Nach den Neuregelungen der Polizeigesetze sollen jetzt auch schon in dieser Situation erhebliche Grundrechtseingriffe zulässig sein.

Schärfere Gesetze In vielen Bundesländern werden derzeit die Polizeigesetze verschärft. Das Innenministerium will außerdem bis zur Sommerpause ein Muster-Polizeigesetz auf Bundesebene auf den Weg bringen, um landesweite Vorschriften zu vereinheitlichen.

Bayerische Hardliner Die größten Verschärfungen sieht die Novelle des bayerischen Polizeigesetzes vor, die am 26. April verabschiedet werden soll. Mit dem Gesetz erhielte die Polizei Befugnisse, die denen eines Geheimdienstes ähneln, etwa die umfassende Über­wachung von Telekommunikation ohne konkrete Hinweise auf Straftaten. (mgu)

Der SEK-Einsatz bei einer Antifa-Demo in der sächsischen Kleinstadt Wurzen oder das Agieren der Polizei bei G20 sind Beispiele für ein autoritäres Auftreten der Polizei, an dem es viel Kritik gab. Würden Sie der These zustimmen, dass die Polizei in Deutschland zunehmend autoritär agiert?

Autoritär finde ich als Begriff zu pauschal. Man kann aber sagen, dass es eine Militarisierung der Polizei gibt. Es findet zunehmend eine Ausrüstung mit Material statt, das man sonst aus dem militärischen Bereich kennt. Und dieses Material wird in der Praxis auch schneller eingesetzt. Die Beispiele Wurzen oder G20 zeigen dies – dass mit Gewehren bewaffnete Spezialeinheiten in solchen Situationen eingesetzt werden, kannte man vorher nicht unbedingt.

Gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern? Handeln manche besonders drastisch?

Bayern ist auf eine Art immer Vorreiter, aber generell kann man sagen, dass die Unterschiede nicht riesengroß sind. Selbst Baden-Württemberg hat sehr massive Änderungen eingeführt. Auch der Gesetzentwurf in NRW ist sehr umfassend. Viele Änderungen gehen auf Absprachen in der Innenministerkonferenz zurück, da entzieht sich kaum ein Bundesland der allgemeinen Entwicklung.

Es ist also zu erwarten, dass die übrigen Länder mitziehen?

Das ist meiner Meinung nach eine Frage der Zeit. Vielleicht wird man in Berlin unter Rot-Rot-Grün nicht jede Maßnahme genau so übernehmen, sondern die ein oder andere Sache rauslassen. Beispielsweise hat Bayern die zeitliche Obergrenze für den Präventivgewahrsam gestrichen. Dort kann man Personen nun theoretisch unbegrenzt präventiv die Freiheit entziehen, was praktisch den schwersten Grundrechtseingriff darstellt. Das wird aber sicher nicht in allen Bundesländern genau so kommen oder erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung.

ist Professor für Krimino­logie an der Ruhr-Universität Bochum.

Sind die BürgerInnen diesen Grundrechtseinschränkungen machtlos ausgeliefert?

Ich denke, dass zumindest einige der neuen Polizeigesetze beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe landen und überprüft werden. Denn das, was zum Beispiel in Bayern eingeführt wurde und werden soll, ist einfach sehr drastisch und verfassungsrechtlich in höchstem Maße problematisch. Ansonsten ist es auch immer ein bisschen die Frage nach der politischen Lage.

Soll heißen?

Man muss sich klarmachen, dass das Sicherheitsversprechen, das die Politik gibt und die Bevölkerung einfordert, eine Illusion ist – es gibt keine absolute Sicherheit. Man kann die Polizei mit Befugnissen und Ressourcen ausstatten, wie man möchte. Trotzdem wird man Anschläge nicht hundertprozentig verhindern können, und es gibt auch keine Gesellschaft ohne Kriminalität. Ein gewisses Risiko gehört zum Leben dazu. Auf der anderen Seite sind die weitreichenden Befugnisse, die man der Polizei einräumt, rechtsstaatlich ein hoher Preis und können selbst zur Bedrohung werden. Die Befugnisse gestatten der Polizei sehr weitreichende Maßnahmen unter vageren Voraussetzungen, die dementsprechend von den Gerichten schwerer kontrolliert werden können. Das sollte man im Auge behalten und sich als Gesellschaft überlegen, wie weit man bereit ist, zu gehen.

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