„Die Werte sind besorgniserregend“

Unsere Luft macht uns krank: Der Osnabrücker Kinderarzt und Umweltmediziner Thomas Lob-Corzilius über Grenzwerte, Gefahren und Gegenmaßnahmen

Die Stresemannstraße von oben: der Verkehr quält sich unablässig durch die enge Straßenschlucht Foto: Miguel Ferraz

Interview Harff-Peter Schönherr

taz: Herr Lob-Corzilius, jeder EU-Bürger hat ein Recht auf saubere Luft, so der Europäische Gerichtshof. Aber unsere Luft ist nicht sauber, oder?

Thomas Lob-Corzilius: Absolut nicht. Anfang April hat die EU-Kommission deshalb eine Klage als Vertragsverletzungsverfahren gegen fünf EU-Länder angekündigt, in denen die Verunreinigung am stärksten ist. Deutschland steht mit am Pranger.

Beispiel Stickstoffdioxid, Hauptverursacher ist Diesel-Abgas: Der Grenzwert beträgt laut EU-Verordnung für das Jahresmittel 40 mg/m³. Viele deutsche Städte reißen ihn.

Teils ganz erheblich. Hamburg, zum Beispiel hatte 2017 58 mg/m³, Kiel 56. Die Stickstoffdioxid-Werte sind zwar in den letzten Jahren bundesweit gesunken, wie auch die Werte für Feinstaub und Schwefeldioxid, aber sie sind noch immer besorgniserregend.

Die Aktion „Decke auf, wo Atmen krank macht“ der Deutschen Umwelthilfe hat im Februar bei fast 90 Prozent ihrer 559 Messstellen Belastungen von über 20 mg/m³ gemessen, die sie für „gesundheitlich bedenklich“ hält. . Klingt, als ob das Problem schon bei der Höhe des Grenzwerts anfängt.

Der EU-Grenzwert von 40 mg/m³ repräsentiert den Stand der Forschung der 2000er-Jahre. Heute haben wir weit bessere epidemiologische Daten. 2017 hat eine weltweite Metaanalyse aus 41 Studien ergeben, dass das relative Risiko, an Asthma zu erkranken, bei 1,48 liegt, wenn die mittlere jährliche Belastung über 30 mg/m³ liegt – ein Anstieg um 48 Prozent also. Man kann jetzt sagen: Werte über 20 sind nicht gesundheits­ver­träg­lich.

Das ist die Hälfte des jetzigen Grenzwerts.

Aber ich breche jetzt trotzdem mal eine Lanze für den 40er-Grenzwert: Hätte die EU ihn 2008 nicht beschlossen, hätten wir in Deutschland womöglich bis heute überhaupt keinen. Die Verflechtung von Politik, Autoindustrie und Aufsichtsorganen ist bei uns ja eng.

Die Autoindustrie macht uns krank?

Über Jahrzehnte hat sie Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen mitverursacht.

Und das sind ja noch nicht mal alle Erkrankungen!

Anfang März hat das Umweltbundesamt eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass schon bei Konzentrationen deutlich unterhalb des jetzigen Grenzwerts jährlich zusätzlich fast 900.000 Atemwegs- und Diabetes-Erkrankungen anfallen. Und 6.000 vorzeitige Todesfälle. Für mich als Kinderarzt noch bedeutsam: Stickoxid kann auch zu Schwangerschaftsvergiftungen mit Frühgeburten bis hin zu kindlichen Aufmerksamkeitsdefiziten führen. Trotzdem wäre es falsch, in Alarmismus zu verfallen. Man darf sich aber auch nichts von den Trumps der Wissenschaft erzählen lassen, die alles leugnen.

Alice Weidel, AfD, behauptet, die Stickstoffdioxid-Debatte sei „politisch motiviert“ und zeige „nicht die Realitäten“, schließlich liege der Grenzwert mancher Arbeitsplätze in Industrie und Handwerk bei 950 mg/m³.

Das ist kalkulierte Desinformation! Dieser Grenzwert gilt ja nur an Arbeitstagen – das sind im Schnitt nur 240 pro Jahr. Er gilt nur für acht Stunden pro Tag. Es ist nur für gesunde Erwachsene kalkuliert und ein Maximalwert. Und niemand wird dazu gezwungen, sich dem auszusetzen. Mit einer ungefragten, unausweichlichen Rund-um-die-Uhr-Belastung aller, auch der Alten, der Kranken, der Kinder, ist das nicht zu vergleichen.

Und die Automobilindustrie ist nicht der einzige Schuldige für unsere schlechte Luft, ebenso wenig wie das Stickstoffdioxid.

Auch die Agrarindustrie ist in der Verantwortung. Die Massentierhaltung setzt erhebliche Mengen Ammoniak frei, beim Abbau und Ausbringen von Exkrementen als Dünger. Reagieren ammoniakhaltige Gase in der Luft mit Stick- und Schwefeloxiden aus Industrie und Verkehr, entsteht feinster Staub, der bis in die Lungenbläschen vordringt und von dort ins Blut gelangt.

Manche Verursacher von schlechter Luft sind so exotisch, dass kaum jemand an sie denkt. Kreuzfahrtschiffe zum Beispiel.

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Thomas Lob-Corzilius ist Kinder- und Jugendarzt, Allergologe und Umweltmediziner; er arbeitet am Christlichen Kinderhospital Osnabrück und ist Mitbegründer des „Netzwerks Kindergesundheit und Umwelt“. Hier bringt er gerade einen Stickstoffdioxid-Passivsammler an einer Straßenlaterne an.

Durch die Schwerölverbrennung – eigentlich Sondermüll – werden große Mengen an Ruß, Stick- und Schwefeldioxid frei, außerdem enorme Mengen an Feinstaub. Viele Schiffe werden während ihrer Liegezeit ja nicht an die Landstromversorgung gekoppelt und lassen ihre Motoren einfach laufen. Das muss man dringend unterbinden. Und dann ist da noch Silvester, auch ein extremer Feinstaubproduzent.

Das Feuerwerk?

Am 1. Januar, um 1 Uhr, haben wir an vielen Orten Deutschlands Werte bis zu 640 mg/m³ Feinstaub, das sind Pekinger Smog-Verhältnisse. Spitzenwerte gehen bis 2.500. Bundesweit summiert sich das zu 5.000 Tonnen Feinstaub. Das entspricht rund 17 Prozent der jährlich im Straßenverkehr abgegebenen Menge.

Sie arbeiten mit der Deutschen Umwelthilfe zusammen, haben für „Decke auf, wo Atmen krank macht“ eine Messstelle in Osnabrück installiert.

Ergebnis: 37,8 mg/m³. Dazu muss man wissen: So ein Messröhrchen hängt in rund zwei Meter Höhe. Und wir hatten während der Messung eine Frostperiode. Denkbar ist also, dass das Stickstoffdioxid, das ja primär in PKW-Auspuffhöhe austritt, durch die Kälte bodennah blieb und den Sammler nicht im vollen Umfang erreichte. Um die Kältewirkung rauszurechnen, muss man bis zehn Prozent draufschlagen, und dann ist der Grenzwert überschritten. Und jetzt stellen sie sich mal ein kleines Kind vor, „Kindernasenhöhe“ 80 cm. Das atmet all das bei jedem Wetter ab.

Die Stadt Osnabrück, im Jahresmittel mit 44 mg/m³ belastet, hat gerade einen aktualisierten „Luftreinhalteplan“ vorgelegt. Ein Diesel-Fahrverbot steht da noch nicht drin.

Aber es wird ein Szenario beschrieben mit einer Umweltzone mit Blauer Plakette, mit konsequenter Nachrüstung von Diesel-Bussen, deutlich mehr E-Bussen – das sind Schritte in die richtige Richtung.