demografie
: Das Ende des Alarmismus

Die Deutschen sterben doch nicht aus. Hinter der meist düsteren Prognose stecken oft ökonomische Interessen

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Thomas Gesterkamp

ist Politikwissenschaftler und Autor in Köln. Er schreibt vorwiegend über Themen aus der Arbeitswelt sowie über Sozial- und Geschlechterpolitik.

Wohnen Mitte des Jahrhunderts nur noch 60 statt über 80 Millionen Menschen in Deutschland? Werden künftig in den östlichen Bundesländern ganze Wohnviertel leerstehen, Dörfer sich auflösen, wie Bevölkerungsforscher noch vor Kurzem warnten? Mittlerweile zeichnet sich ein ganz anderer Trend ab: Die bisherigen Voraussagen waren schlicht falsch – und zu pessimistisch: Die Einwohnerzahlen bleiben stabil. In einigen ländlichen Regionen sinken sie zwar leicht, in vielen Großstädten aber steigen sie deutlich. Der demografische Alarmismus, der ständig vor „Vergreisung“ warnt, wirkt immer weniger glaubwürdig.

Das liegt nicht nur an der Zuwanderung, sondern auch an einer Trendwende bei den Geburten. Es gibt wieder mehr Kinder, die Rate ist so hoch wie seit Anfang der 1970er Jahre nicht mehr. War sie zwischenzeitlich auf 1,3 Kinder pro Frau zurückgegangen, wuchs sie inzwischen auf fast 1,6. In absoluten Zahlen melden die Statistiker für das letzte Berichtsjahr 2016 fast 800.000 Neugeborene, sieben Prozent mehr als 2015 und fast zwanzig Prozent mehr als 2011.

Die Bevölkerung in Deutschland wird bis 2023 nach einer aktuellen Prognose des (arbeitgebernahen) Instituts der deutschen Wirtschaft auf fast 84 Millionen Menschen zunehmen. Auch im Jahr 2035 sollen es noch über 83 Millionen Einwohner sein, mehr als heute. „Die Deutschen sterben aus“, diese düstere Botschaft verbreiten, neben rechten Rassisten, vor allem die Lobbyisten der Versicherungswirtschaft. Kein Zufall: Ein Gewerbe, das Sicherheit verkaufen will, ist interessiert daran, dass Menschen über die Zukunft verunsichert sind. Doch demografische Prognosen sind nie eindeutig, wissenschaftlich objektiv oder wertfrei. Dahinter stecken handfeste ökonomische Interessen. Mit der Klage über die „Überalterung“ der Gesellschaft schürt die Sicherheitsbranche Ängste, um mehr Riester-Renten und ähnliche Produkte unter die Leute zu bringen.

Die steigenden Geburtenziffern beruhen darauf, dass jetzt die Kinder der Babyboomer im gebärfähigen Alter sind. Bemerkbar macht sich auch der Wertewandel in der Generation Y, der Jahrgänge ab 1980, die in Befragungen neben der beruflichen Karriere auch private Lebensziele hoch bewertet. Auffällig ist nach Detailauswertungen des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zudem, dass immer mehr Frauen erst im Alter zwischen 30 und 40 Jahren Nachwuchs bekommen. Das gilt vor allem für Akademikerinnen, die nach dem Studium zunächst beruflich Fuß fassen wollen und ihren Kinderwunsch biografisch nach hinten verschieben.

Es gibt große regionale Unterschiede. Spitzenreiter bei der Geburtenrate mit durchschnittlich 2,01 Kindern pro Frau ist der niedersächsische Landkreis Cloppenburg, geringe Werte verzeichnen die meisten Großstädte. Das BiB nennt Merkmale für Gegenden mit einer hohen „Fertilität“: geringes Bildungsniveau, traditionelle Wirtschaftsstruktur mit wenig Dienstleistungsarbeit, ländliche und katholische Prägung, entspannter Immobilienmarkt. Gerade das letzte Kriterium ist in jüngster Zeit bedeutsam geworden: Familien mit mehreren Kindern und hohem Wohnraumbedarf können sich die Mieten und Häuserpreise in den Ballungsgebieten oft nicht mehr leisten.

Im internationalen Vergleich erreicht Deutschlands Geburtenrate mit 1,59 Kindern je Frau inzwischen fast den EU-Durchschnitt. In südeuropäischen, zuletzt wirtschaftlich kriselnden Staaten wie Spanien, Italien, Portugal und Griechenland ist die Quote niedriger. Höher ist sie im katholischen Irland, aber auch in den Niederlanden, in Großbritannien oder Skandinavien. Das einstige Gefälle zum Nachbarn Frankreich schwindet: Dort ist die Kinderzahl pro Frau sogar gesunken, liegt aber immer noch erheblich über dem deutschen Wert. In familienpolitischen Debatten wurde diese Differenz häufig mit dem System der französischen Kinderbetreuung (Ecole maternelle) erklärt. Durch den Ausbau von Kitas und Krippen holt Deutschland offenbar langsam auf, auch die Einführung des Elterngelds als Lohnersatzleistung zeigt Wirkung. Die steigende Geburtenrate ist also auch eine Folge attraktiver staatlicher Leistungen – ein Zusammenhang, der von Wissenschaftlern und konservativen Politikern lange bestritten wurde.

Verzerrt wird die Statistik durch den Faktor Migration. Von den Kindern, die 2016 in Deutschland geboren wurden, haben 185.000 ausländische Mütter. Das war ein Viertel mehr als im Jahr 2015 und eine direkte Folge der Zuwanderung. So kamen 2016 beispielsweise 18.500 Kinder syrischer Eltern in Deutschland zur Welt, in 21.800 Fällen hatten die Mütter einen türkischen, in 11.800 Fällen einen polnischen Pass. Unter den biodeutschen Frauen liegt die Geburtenrate im Schnitt bei 1,46, unter den Migrantinnen bei 2,28. Allerdings beobachten die Forscher, dass diese Differenz im Laufe der Zeit abnimmt, weil sich die Zugewanderten der zweiten und dritten Generation „an das deutsche Leitbild anpassen“. Und dieses Leitbild lautet: höchstens zwei Kinder pro Familie.

Es gibt wieder mehr Kinder, die Rate ist so hoch wie seit Anfang der 1970er Jahre nicht mehr

Im weltweiten Maßstab betrachtet war es schon immer eine irreale Vorstellung, dass sich ein reicher Staat wie Deutschland mit seiner – trotz mancher Mängel im Detail – hervorragenden Infrastruktur „entvölkern“ könnte. Mit dem Kleinrechnen des Faktors Migration und der Fortschreibung niedriger Geburtenraten haben die Demografen den Alarmismus über eine aussterbende (biodeutsche) Bevölkerung befördert. Stiegen die Einwohnerzahlen trotz gegenläufiger Prognosen, erklärten die Statistiker das kurzerhand zum Ausreißer.

Realistische Voraussagen sind wichtig, damit die Politik nicht Interessengruppen wie den Versicherern auf den Leim geht. Statt das Rentenalter zu erhöhen und „zur privaten Vorsorge“ aufzurufen, sollte sie eine weiterhin bevölkerungsreiche Zukunft planen, mehr in die Schulen investieren und den öffentlichen Wohnungsbau der wachsenden Städte ankurbeln.