Paolo ist nervös

Und ewig dreht sich die Bühne: Im Theater Osnabrück wird aus Pier Paolo Pasolinis Filmskript „San Paolo“ eine Oper. Das Ergebnis ist sperrig und zäh, was es will: unklar

Brille auf, Brille ab: Jan Friedrich Eggers fühlt sich als Paolo offenbar unwohl Foto: Jörg Landsberg

Von Harff-Peter Schönherr

Als das erste Blut fließt, ist der Vorhang noch nicht lange oben. Stefano, kerkerbleich und halbnackt, von Fesselung und Folter gezeichnet, wird durch einen Pistolenschuss hingerichtet, umringt und bedrängt vom faschistoiden Pöbel. Wir sind in Jerusalem, 35 n. Chr., und doch sind wir zugleich in Paris, 1941. Der Gotteslästerung angeklagt, liegt Stefano am Boden, aus seiner Brust quillt ein Strom von Rot. Ein starker Auftakt.

Eine gute Stunde später liegt auch Paolo blutend am Boden – alias Paulus, eher scheinheilig als heilig. Ein Skinhead mit Baseballknüppel tritt ihm in den Magen. Wir sind in Athen, 49 n. Chr., und doch sind wir zugleich in Rom, 1952.

Ja, es wird viel Qual zelebriert, in „San Paolo“, Sidney Corbetts für Osnabrück komponierter Oratorien-Oper nach Pier Paolo Pasolinis gleichnamigem Filmskript. Kirchengründung, lernen wir, verursacht Leid. Corbetts Musik, eher eine lautmalerische Klangcollage, schreit, wimmert, peitscht, seufzt. Paolo, der Einsame, Unverstandene, Enttäuschte, der fanatische Prediger, wankt durchs Leben, dem Tod entgegen.

Paolo, das ist der Bariton Jan Friedrich Eggers. Gesanglich ist er stark, wie alle hier, schauspiele­risch zeigt er Unsicherheit. Hätte ihm der Requisiteur nur keine Brille gegeben! Eggers setzt sie auf, ab, auf, endlos oft, klappt sie zu, auf, zu. Inszenatorischen Sinn hat das nicht. Aber so sind wenigstens seine Hände beschäftigt.Auch die Wege, die er durch das mehrstöckige Gerüst-Labyrinth aus Räumen und Türen zurücklegt, das auf der Drehbühne filmszenenhaft an uns vorübergleitet, irritieren. Macht er sie nur, weil all diese Räume und Türen nun eben da sind? Notwendig ist keiner davon.

Ein kluges, stimmungsstarkes Bühnenbild, das Wolf Gutjahr hier entworfen hat, Chiffre des immerwährenden Vorwärts des Lebens. Doch leider wird überreizt, was eine Drehbühne nun mal am besten kann: Sie dreht sich allzu oft, und allzu oft unnötig. Das stanzt lange Pausen ins Geschehen. Kein Darsteller ist zu sehen derweil, manchmal schweigt auch noch das sperrige Getön aus dem Orchestergraben – produktiv ist dieses Warten nicht.

Naziklischees und kiffende Hippies in Batik-Optik

Vieles ist hier nicht produktiv. Dieses statische Rumgestehe etwa: Einer singt starr Richtung Rampe, alle anderen hören teilnahmslos zu. Und diese Stereotypen: Ja, Nazis tragen lange Gestapomäntel, Blumenkinder verwaschene Batikhemden, Homosexuelle kleiden sich in Lederkluft und hochgekrempelte T-Shirt-Ärmel… Klar, dass da auch die obligatorischen KZ-Verweise nicht fehlen, die frühen Christen sind schließlich Juden.

„San Paolo“ hat Stärken. Die stimmgewaltige Sopranistin Susann Vent-Wunderlich zum Beispiel, als Giovanni detto Marco – walkürenhaft sucht ihr Blick die Ferne. Oder der satte Bariton von Rhys Jenkins, als Kampfstiefelträger Pietro. Spannend sind auch die expressiven Videos von Jana Schatz, die Gutjahrs Raumlandschaft mit neuen Bedeutungsschichten überziehen – riesige Augen öffnen sich, Pasolini selbst taucht kurz auf.

Aber leider ist da die Regie von Alexander May. Im Grunde beschränkt sie sich darauf, malerische Sängergrüppchen in die Kulissen zu stellen. Drei Jahre hat Corbett an „San Paolo“ gearbeitet – May scheint mit seinem Part schon nach drei Tagen zufrieden gewesen zu sein. Dass Pasolinis lebensferner, hochkomplexer Stoff Vermittlungshilfe braucht, weil sonst nicht klar wird, was hier Machtgier ist und was Mysterium, hat May nicht bemerkt.

Beim Rausgehen, sagt eine Besucherin: „Hätte ich nicht vorher gewusst, um was es geht, hätte ich nichts verstanden.“ Treffer: Wer auf der Bühne wer ist, erschließt sich nicht. Was dort gerade vor sich geht und warum? Rätselhaft. Klar, die Monitor-“Übertitel“, die das Italienische übersetzen, geben Hilfestellung. Aber da steht dann viel von Gott, und das wars. Schauplätze und Darstellerkonstellationen sind ermüdend eintönig, und dass sich der Chor manchmal zum Revoluzzertrupp umzieht, Patronengurte über der Brust, oder zur Hippiekommune, Joint inklusive, ändert nicht viel. So dehnen sich die 90 Minuten Spieldauer endlos. In Reihe sechs schläft eine Besucherin viertelstundenlang tief – eine beachtliche Leistung bei Corbetts jähen Geräuschen. Und in Reihe sieben werden schon nach einer halben Stunde Smartphones gecheckt.

In Reihe sechs schläft eine Besucherin tief – eine beachtliche Leistung bei Corbetts jähen Geräuschen

Klar, das Theater Osnabrück beweist Mut, indem es Pasolini reanimiert. Der Kommunist und Atheist, der radikale Geißler sozialer Ungerechtigkeiten und autoritärer Strukturen, wortmächtig gegen Staat und Kirche, steht für Todesdrohungen, Indizierungen, Gerichtsverfahren. Wer seinen Namen hört, assoziiert in erster Linie den Skandal um seinen gewalt­exzessiven Spielfilm „Die 120 Tage von Sodom“ von 1975 – und den Skandal um seine Ermordung im selben Jahr, bei der die Spurensicherung so spurenvernichterisch war, dass der Verdacht nahe liegt, die Wahrheit solle nie ans Licht kommen. Pasolinis Leistung als Essayist, Kritiker und Poet, als Bildkünstler, Schauspieler, Prosaist und Dramatiker geht dagegen oft unter.

Corbetts Oper ist nicht verdienstvoll, weil sie ist, wie sie ist, sondern weil sie eine Kompositions-Auftragsarbeit ist, eine Uraufführung, ein Statement gegen die Bequemlichkeit vieler kommunaler Theater, ausgerechnet mit der kostenintensivsten ihrer Sparten nur das Standardrepertoire zu liefern, von dem kein Risiko ausgeht – von Bizets „Carmen“ bis Rossinis „Der Barbier von Sevilla“. Dass Carmen dann vielleicht gar nicht stirbt oder im Barbier sekundenkurz E-Gitarre zu hören ist, stellt meist keine wirkliche Neuerung dar. Bizet bleibt Bizet, Rossini bleibt Rossini, und alle Perspektivierung auf Konfliktstoffe der Gegenwart bleibt Kosmetik. Wie wichtig „San Paolo“dem Osnabrücker Haus ist, zeigt allein schon der Einsatz von Intendant Ralf Waldschmidt: Er ist der Dramaturg, hat das Libretto erstellt.

Worum geht’s eigentlich?

Aber gewollt ist eben nicht immer gekonnt. Sicher, der Chor hat gesanglich starke Szenen. Und dass May Sprechtheater einschiebt, lockert auf. Aber leider ist nicht immer zu verstehen, was Klaus Fischer, ausgeliehen vom Schauspielensemble, da an der Rampe murmelt. Und dann ist da noch das ewige Leid mit den Waffen. Wann endlich engagiert Waldschmidt jemanden, der seinem Ensemble beibringt, wie man mit einer Pistole umgeht, einem Karabiner, einem Sturmgewehr?

Apropos Rampe: Was soll das Sprungnetz über dem Orchestergraben? Mit der Inszenierung hat es offenbar nichts zu tun. Ein neues Safety-Feature? Für den Fall, dass die Drehbühne Darsteller von sich schleudert?„San Paolo“ werde, so das Versprechen, auch jenseits des Theaters „Fragen an die Friedensstadt Osnabrück stellen“. Fragt sich nur, wie diese Fragen aussehen und was die Stadt antwortet.

Oper: San Paolo, 11.,. 20., 24., 30.5., Theater am Domhof, Osnabrück