Die Wahrheit: Zurück in der alten Welt

Kehrt man heim in seine Erzeugergegend und wohnt wieder in der Provinz, dann kennt einen schon bald jeder Ureinwohner.

Ich bin plötzlich zurück in der alten Welt, also auf den Kontinenten der Erde, die den Europäern vor der Entdeckung Amerikas 1492 bekannt waren: Europa, Afrika und Asien. Vor meiner Entdeckung Amerikas – sprich: Kassel – kannte ich nur Porta Westfalica, Herford und Bad Salzuflen, wobei mir Bad Salzuflen ein fernes, unbekanntes Asien war und Herford eine Art Afrika, mit faszinierenden Wildtieren, denn dort gab es einen Schuppen namens „Scala“, in dem englische Punkbands wie „999“ spielten. Meine „alte Welt“ ist Ostwestfalen. Dort auf dem Dorf bin ich aufgewachsen.

Nun lebe ich wieder in Minden. Das „Windlicht“ und „Zum seriösen Fußgänger“ gibt es immer noch, auch „Potthoffs Grillimbiss“. Zuvor in Dortmund kannte mich auch nach elf Jahren kaum einer. In Minden ist das anders. Der Grad an sozialer Kontrolle ist immens. Das war schon immer so. Meine Mutter war Milchmädchen und heißt trotz Heirat bei allen „Südmass Ilse“. Ich bin deshalb „Südmass Ilse sien Ölsten“. Sien, seiner, also männlich, obwohl es ihrer, ürn, heißen müsste, aber so ist das mit den besitzanzeigenden Fürwörtern im Plattdeutschen.

Besuche ich heute meine Eltern, um mich „nützlich“ zu machen – deswegen bin ich hergezogen – und komme gegen Mittag, dann erfahre ich von ihnen genau, was ich wo am Vorabend gemacht habe. Originalton meiner Mutter Ilse: „Gistern hätt di oll wier wer seien. Doar kann jo nix van wer’n, wenn du geden Dach im Windlicht sittest!“ Ich war zwar nur zwischen sechs und sieben auf eine kleine Pizza da gewesen, aber das ist egal.

Mich grüßen hier Menschen, die ich nicht kenne, ich grüße freundlich zurück, das macht man hier so. Ganz Minden ist ein Dorf. Das ist schön, weil man fast überall alte Bekannte trifft. Das ist Heimat: Stadt, Land, Fluss, Name, Tier, Beruf.

Mich grüßen aber auch Menschen, die erwarten, dass ich sie kenne, dass ich mich an ihre Namen erinnere oder an die Schulzeit, an Tanzvergnügen oder irgendwelche Sauftouren. Und gerade an letztere habe ich naturgemäß keinerlei Erinnerungen. Damals tranken wir noch Wodka-O. Außerdem Persico, Korn und Apfelkorn. Also zwischen den Bieren. Das gehört hier zu den männlichen Initiationsriten.

Neulich grüßte mich an der Tankstelle wieder jemand, als wäre ich sein ältester Freund, und ich stand da mit dem schlechten Gewissen des Weitgereisten, der doch niemanden der alten Lieben vergessen haben möchte. Also wollte ich mein Unwissen eingestehen. Ich sagte: „Hilf mir aufs Pferd! Woher kennen wir uns?“ Und er sagte: „Hi, ich bin Dimitri. Und wir kennen uns gar nicht. Aber ich weiß, wer du bist.“

Das war also einer der Spione meiner Eltern. Vom Dorf-Geheimdienst, der ihnen stets mitteilt, in welcher Kneipe ich gewesen bin. Meine Eltern wissen schon mein Leben lang sobutz von allen meinen Sünden. Wenn wir Jungs was „angestellt hatten“, hieß es im Dorf: „Ich weit nich, wer datt e wäsen is, over Südmass Ilse sien Ölsten, de was dorbi!“

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Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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