Essay zum Artensterben: Es stirbt die Kreatur

Wo Insekten sterben, hungern Singvögel. Wir dürfen nicht länger zuschauen, denn wir stehen am Ende der Nahrungskette.

Ilustration: Ein Käfer mit Gasmaske

Wenn Insekten das Atmen schwerfällt Illustration: Eléonore Roedel

Das große Versprechen unserer Zeit lautet, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die aus dem Zellkern und vom Mars gewonnen wurden, das Leben besser machen. Seit dem Beginn der Aufklärung bestärken uns WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Unternehmen in dem Glauben, dass wissenschaftliche Erkenntnis uns auf die sichere Seite der Ratio, der Wahrheit, der Gesetzmäßigkeit bringt. Wir wissen, also können wir kontrollieren. Und Kontrolle schafft Sicherheit. Die Sache ist nur: Das Wissen nützt gar nichts, wenn wir nichts daraus machen und den aufklärerischen Auftrag der Wissenschaft in den Wind schießen.

Vom Klimawandel kennt man das schon. Temperatur: steigt, Klimaverhandlungen: ja, Umsetzung: nada. Und den Tieren und Pflanzen geht es nicht anders: Artensterben erforscht, Bio­diversitätsverhandlungen laufen, das Bundesumweltministerium twittert: „Samenkugeln gegen Insektensterben“. Wie sich nun im zweiten Sommer nach der bundesweiten Wahrnehmung des Insektensterbens zeigt, entgleitet uns jedoch der wissenschaftlich dokumentierte Artentod in Wald, Wiese, Fluss und Ozean.

Die Ignoranz gegenüber dem Leben wird langsam gefährlich, auch wenn wir Menschen satt sind und ausreichend Trinkwasser aus dem Hahn läuft. Natürlich weiß niemand genau, was passiert, wenn Wildbienen, Schwebfliegen, Laufkäfer und der Weißdolchbläuling aussterben. Wir möchten es aber auch nicht herausfinden und am lebenden Objekt ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn die Ökosysteme zusammenbrechen. Das lebende Objekt unserer Betrachtung sind ja schließlich wir, nicht ein Käfer oder ein Falter, von dessen Existenz nur ein paar Schrate und Naturzausel wussten und den deswegen kaum jemand vermisst, wenn er für immer verschwindet. Wir, Homo sapiens, sind und bleiben eingewoben in das große Geflecht des Lebens und das ist nicht christlich, religiös, gar esoterisch, sondern eine wissenschaftliche Tatsache.

Es verändert sich nicht nur das abstrakte Klima, sondern es stirbt die Kreatur. Unsere Mitgeschöpfe sterben, wie Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato si! „über die Sorge für das gemeinsame Haus“ schreibt. Die großen Kontrahenten der europäischen Aufklärung, die Wissenschaft und die katholische Kirche, kommen nach 300 Jahren Trennung von Ratio und Geist zu demselben Schluss. Und der lautet: Weiter so geht es nicht. Es ist daher an der Zeit, die Aufklärung weiterzudenken und die unselige Trennung von Mensch und Natur, Ratio und Gefühl, Geist und Seele zu beenden.

Massensterben im Reich der Tiere

Das bedeutet, die entsetzlichen Nachrichten vom Massensterben im Reich der Tiere endlich nicht nur kognitiv zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch mit dem Herzen zu verstehen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Handeln umzusetzen. Es ist an der Zeit, den Weißdolchbläuling zu sehen und zu verstehen, dass dieser kleine Schmetterling nur an sehr bestimmten Gräsern auf Trockenrasen leben kann.

Das Insektensterben muss nicht weiter erforscht werden, wie neulich ein Insektenforscher sagte, da er den Insekten bereits beim Sterben zusehe. Vogelfreunde und GartenbesitzerInnen beobachten in diesem Frühjahr erneut, dass Amseln, Spatzen, Grünfinken, Blaumeisen, Stare seltener zu sehen sind als in früheren Jahren. Mauersegler und Mehlschwalben machen in vielen Gegenden nicht mal mehr einzeln einen Sommer.

Gerade stellte der staatlich angestellte Betreuer der Wanderfalken im Nationalpark Sächsische Schweiz fest, dass von 18 Brutpaaren im Elbsandsteingebirge dort nur 6 erfolgreich brüten und 17 Junge aufziehen. Im vergangenen Jahr haben 30 Wanderfalkenpaare 40 Junge großgezogen. Das muss man erst mal sacken lassen. Durchschnittlich ziehen Wanderfalken 2,5 Junge im Frühsommer groß. Letztes Jahr hatten die Wanderfalken im Elbsandsteingebirge durchschnittlich 0,9 Junge im Nest. Und dieses Jahr kommen nur die Hälfte der Wanderfalken und gerade mal 6 Paare brüten noch.

Die Küken der Wanderfalken verhungern

Wanderfalken stürzen sich mit angelegten Flügeln aus der Höhe auf Drosseln, Tauben, Stare, erschlagen sie mit geschlossen Füßen, rasen mit bis zu 300 Stundenkilometern weiter, wenden abrupt und fangen dann ihre fallende Beute mit scharfen Krallen auf. Selbst unter Greifvögeln ist ihre Jagdmethode spektakulär. Neben dem Sturzflug haben Wanderfalken noch andere Tricks drauf, um Vögel zwischen Meisen- und Entengröße zu fangen. Sie überraschen ihre Beute mit der Sonne im Rücken, sie jagen zu zweit, scheuchen Vögel aus dem Gebüsch auf und holen sie im Flug ein. Wanderfalken haben sich in der Evolution zu Meistern der Flugjagd entwickelt. Ihr Körper und alle ihre Fähigkeiten sind hoch spezialisiert auf die Vogeljagd.

Wo keine Schmetterlinge und Hummeln fliegen, da hungern Singvögel und verschwinden. Und ohne die Singvögel hungern dann auch Falken und andere Greifvögel. Die wahrscheinlichste Ursache für die fehlenden Nachkommen bei den Wanderfalken lautet daher Nahrungsmangel. Die Küken verhungern. Oder die Weibchen legen gar keine Eier. Das Insektensterben hat die Spitze der Nahrungskette erreicht. Und das nicht nur bei den Wanderfalken: Auch die Nester vom Raufußkauz sind leer im Nationalpark, Habichte und Mäusebussarde haben in vielen Gegenden Deutschlands nur noch ein Junges im Nest statt zwei oder drei.

An der Weltspitze der Nahrungskette stehen: Wir. Und wir sind satt, ob Amsel, Fink, Star, Libellen oder Bienen nun gerade dabei sind, auszusterben oder nicht. Doch wenn die Schwebfliegen verschwinden, dann könnten bald auch die Maishähnchenbrust und der Avocado-Smoothie vom Tisch verschwinden. Einige Supermarktketten und Discounter wollten kürzlich ihren KundInnen das Artensterben sinnlich vermitteln. Sie räumten Regale leer, um jedem klar zu machen, welche Lebensmittel wegfallen, wenn keine Bienen mehr die Blüten bestäuben.

Ironischerweise sind es genau diese als Mahner auftretenden Discounter und Lebensmittelketten, die Landwirte seit Jahrzehnten gängeln, um noch billigere Tomaten, Erdbeeren, Weizenbrötchen und Schweinekoteletts zu bekommen. Billiger geht nur mit noch mehr Dünger und Gift auf dem Acker, mit noch mehr Antibiotika und Gift in den Industrieställen für Schweine, Hühner, Puten, Kühe. Zu den Pestiziden kommen unvorstellbare Mengen Mist, den Landwirte auf die Wiesen und Äcker kippen und damit die biologische Vielfalt im Nitrat ersticken. Der agrarindustrielle Komplex verantwortet das Artensterben in der Pflanzen- und Tierwelt, und da kann der Bauernverband noch so lange behaupten, dass das alles nicht wissenschaftlich bewiesen ist und sie nur benutzen, was auch zugelassen ist.

Die Bilder von Honigbienen verniedlichen das große Massensterben

Eigentlich sollte man meinen, dass Bauern selber denken können. Und sehen, was am Feldrand und Ackergrünstreifen passiert – biologisch nichts Gutes. Neonicotinoide schädigen nachgewiesenermaßen das Gehirn von Insekten, die ­Neonics samt ihrer Derivate sind 1.000- bis 10.000-mal giftiger als das Insektenvernichtungsmittel DDT. Sie wirken noch jahrelang, nachdem sie auf den Acker gesprüht wurden, und töten auch Wasserflöhe in entfernten Seen.

Die Eisbären sind für den Klimawandel, was die Bienen für das Insektensterben sind. Die Bilder von Honigbienen verniedlichen jedoch das große Massensterben, fast so als würde sich Biene Maja mal mit Willy streiten. Dieser Bambi-Effekt in der Insektenwelt, der eine Art idealisiert und andere ignoriert, fördert nur die Naturentfremdung. Die Vereinfachung ist nicht nur ärgerlich, sondern geradezu tödlich für die Natur. Denn sie verhindert, dass sich nach der Ignoranz gegenüber Tieren, Pflanzen und ihren natürlichen Lebensräumen nun ein Verständnis für den Zusammenhang der natürlichen Kreisläufe entwickelt. Sie ist außerdem falsch. Die Honigbiene zu einem Symbol gegen das Insektensterben zu machen kommt dem Versuch gleich, eine Milchkuh als Image im Kampf gegen die Ausrottung von Elefanten zu nutzen, nur weil beide Arten zu den Säugetieren gehören und Gras fressen.

Psychologisch gesehen stimmt etwas nicht mit einer Gesellschaft, die das Leben missachtet und die Zerstörung schönredet. Hierzulande erklären sogar Umweltpolitiker das Abnormale zur Normalität. Eine solche Leugnung der Realität ist gefährlich. Wir müssen daher ein neues Verständnis für Natur entwickeln, eine neue Story der Naturverbundenheit erzählen, wenn wir gut und gesund weiterleben wollen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Gründe für die Natur liegen in der Natur. Die biologische Vielfalt schafft erst die Vielfalt, die auch die Stadt als Teil der Natur stützt. Je mehr Pflanzenarten wachsen, desto mehr Viecher krabbeln, hüpfen, fliegen, desto stärker sind die Ökosysteme, in denen Luft zum Atmen und Wasser zum Leben entstehen. Die Sehnsucht der Menschen nach Natur ist zudem riesig, sie übersteigt an Seen, im Gebirge und in Stadtparks zu oft das naturverträgliche Maß.

Das Phänomen der Massennutzung von Natur und der Natur in der Stadt zeigt: Alle sind und alles ist Natur. Zum neuen Naturverständnis, in dem der Mensch wieder in einer Reihe mit anderen Arten steht, gehört auch die Erkenntnis, dass Smartphone und Schnitzel Auswüchse der Natur sind, die auf Kosten der Erd­ressouren produziert und konsumiert werden. Der Weißdolchbläuling wiederum, der uns weit ferner ist, als Smartphone und Schnitzel es sind, trägt zum Gemeinwohl bei. Aber nur, wenn wir uns als aufgeklärte Menschen mit Ethik und Verstand ernst nehmen und seinen Lebensraum respektieren.

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