Hannes Koch
Wir retten die Welt
: Fernweh oder Heimatliebe

Die WhatsApp-Nachrichten kommen Schlag auf Schlag. Mein Kopf schwirrt. All diese Namen – Arequipa, Cook-Inseln, Rarotonga, Potosi, Cochabamba. Wo liegen diese Orte? Mein 18-jähriger Sohn ist wie viele junge Leute nach dem Abitur auf großer Reise. Er ist nach Bolivien geflogen. Sein Freund, ein Mitglied unserer sozialen Familie, nach Neuseeland.

Ich eile zur Weltkarte, die an der Wand im Flur hängt. Also … Arequipa, ach so – Peru. Peru, was klingelt da, der Leuchtende Pfad, diese Guerilla, oder war das …, Moment, Kolumbien? Nein, wie heißen die Kämpfer da doch gleich? Vielleicht habe ich bereits ein Bier zu viel getrunken. Oder mein Weltbild geht tatsächlich ein bisschen durcheinander, was diesen Süden betrifft.

Da meldet sich der Freund meines Sohnes von den Cook-Inseln. Wo sind die jetzt wieder? Da auf der Karte unten rechts. Sie gehören irgendwie zu Neuseeland, erfahre ich aus dem Reisebericht. Er müsse gar nichts einkaufen, ernähre sich von den Früchten, die überall wüchsen. Klingt nach Paradies. Da mir fällt ein: Steuerparadies? Richtig: 2015 schrieb die OECD, die Cook-Inseln seien kein Piratennest mehr, das reichen Säcken (auch) aus Deutschland erlaube, Milliarden Euro vor den Finanzämtern zu verstecken. Vorher aber schon.

Auch wenn der Weltenbummler keinen Reichtum dort bunkert, sondern nur mit einem Kanu durch die Lagune dümpelt, sind solche Reisen Luxus. Mich befällt ein Erstaunen und ein leicht schlechtes Gewissen angesichts der Privilegien unseres Lebens. Keine Generation war jemals so globalisiert wie die unserer Kinder. Wer weiß, ob das so weitergeht oder sich irgendwann wieder zurückdreht, wenn Fliegen fürs Klima verboten wird und sich der Nationalismus noch breiter macht.

Überhaupt: Wo ist die Grenze zwischen dumpfer „Heimatliebe“ und aufgeklärtem „Zu Hause ist es auch nett, und das Nichtbewegen spart Geld und Ressourcen“? Manchmal komme ich mir komisch vor, wenn ich nicht jedes zweite Wochenende unterwegs bin. Ich muss mal wieder nach Tel Aviv – und in Bratislava war ich noch nie. Auf die Frage „Was hast du am Wochenende gemacht?“ zu antworten: „Nicht viel, ausgeschlafen, rumgegammelt, ein paar Seiten gelesen, war langweilig, joggen gegangen“, sind mir mitleidige Blicke gewiss.

Dann erreicht mich diese WhatsApp: Eine Freundin schickt einen lieben Gruß aus Großwasserburg. Wie nah, wie angenehm! Von Berlin dorthin zu fahren, kostet fast nichts. Es dauert bloß zwei Stunden – und doch taucht man ein in eine fremde Welt, in den urwüchsigen Spreewald mit seinen Kanälen, Tümpeln und Sümpfen. Spargel mit Schnitzel im Landgasthof am Wasser unter blühenden Kastanien. Das hat mir immer sehr gefallen. Nun sitze ich auf dem Balkon, zu meinen Füßen im Topf eine Bougainvillea mit ihren wunderbaren blauen Blüten. Kommt aus Brasilien. Ein bisschen Südamerika zu Hause.

Nachtrag: Die Guerilla in Kolumbien heißt Farc. Dieser Lichtstrahl des Wissens durchquerte soeben die Dämmerung meiner frühsenilen ­Namensdemenz.