Inkontinenz des Glücks

Alize Zandwijks Produktion „Amour“ entwirft am Theater Bremen mit Respekt und Komik ein Bild vom Leben in der Geriatrie. Idylle? Kitsch? Nein, hier wird auf den Boden gepinkelt

Was Zandwijk vor allem zeigen will, verdeutlichen die Pas de deux Foto: Landsberg/Theater Bremen

Von Jens Fischer

Amour“ steht auf dem Programmzettel, aber es sieht nach Körperertüchtigung aus. Betongraue Wände, kopfhoch holzvertäfelt, blickdicht verschmutzte Fenster, frisch gebohnerter Fußboden in PVC-Anmutung und eine abgerockte Dusche. Diese perfekte Turnhallen-Illusion ließ Thomas Rupert im 1960er-Jahre-Design als eine Art Anna-Viebrock-Raum bauen. Passend dazu erspielen sich die Bewohner, ähnlich wie in einer Inszenierung Christoph Marthalers, eigenbrötlerisch-kauzig und doch erschlafft ihre Würde. Stieren Blicks ins Leere scheinen alle in sich selbst zu verschwinden und zu Hüllen zu erstarren.

Wie Häftlinge im Hof

Dies ist der Ort, an dem Insassen einer Abschiebestation für Demenzkranke Ausgang haben, wie Häftlinge im Gefängnishof. Auch ist die Halle eine Konzert­arena. Vom per Wimpel angekündigten Musikverein Frohsinn von 1921 ist immerhin Maartje Teussink anwesend. Die bietet mezzo-dunkel mit angerauter Singer-Songwriter-Intonation einige Pophits dar, trötet entzückend jämmerliche Tubasoli dazu, ist aber meist als Multiinstrumentalistin damit beschäftigt, Atmosphärisches zu klötern, streichen, zupfen, blasen, schrabbeln und loopen.

Auch wird die Bühne als Besucherraum genutzt. In den stürmen Karikaturen von Verwandten hinein: „Was gab’s zu Mittag? Kartoffeln! Lecker“, ruft einer aus. Handyfotos werden gemacht. Omas Flehen, nach Hause zu wollen, erstickt in höhnischem Gelächter. Schnell wird sie vor dem Fernseher abgestellt und der Spuk ist vorbei.

Diese Auftritte wiederholen sich, werden von mal zu mal schneller und aggressiver absolviert. Wirken damit immer grotesker. Eingesetzt werden sie, wenn die Bewohner es selbst nicht schaffen, die wohlig verlässliche Dramaturgie der Aufführung zu bedienen – also das Wellenreiten zwischen der berühren wollenden Trostlosigkeit geistiger Zerrüttung und der Zuspitzung dementen Verhaltens zu Momenten absurden Theaters. Was auf unsentimentale Art komisch ist.

Hinreißend macht das Nadine Geyersbach. Ihr gehört gleich die erste Szene. Körperlich aufgepolstert, mit schreiend bunter Bluse und Schlabber-Trainingshose bekleidet, quält sie sich durch die Turnhallentür, wackelt im Ar­throse-Gang zur Rollstuhlrampe, senkt ihren schwerfälligen Körper mühsam auf den Rollatorsitz – und rast mit Skateboarderlust die Schräge hinab. Nicht über sie wird gelacht, sondern mit ihr über ihre Komödiantinnenkunst und mit ihrer Figur über den entrückt juvenilen Seniorenspaß.

Sensibel für die Abgründe des Komischen und Banalen baut Regisseurin Alize Zandwijk spannungsgeladene Bilder und entwickelt daraus szenische Schlaglichter, die das Abdriften ins Vergessen fokussieren und dabei häufig in fassungslose Stille münden.

Die Dialoge sind extrakurz – und vermeintlich sinnlos

Ein weiterer Alzheimer-Patient sitzt im Rollstuhl. Auf ihn stürzt die Gattin los mit Blumen und Kuchen. Etwas Normalität will sie zurück und mit ihm Geburtstag feiern. Er aber kämpft mit der Pein, um seinen Zustand der Orientierungslosigkeit zu wissen – und dass es keine Heilung gibt. Was in zunehmende Unsicherheit und Verzweiflung mündet.

Die Frau versucht, mit Fürsorge eine Brücke zu bauen und ihren Aufruhr zu überspielen, gleichzeitig wütend, mitleidig, hilflos, beschämt zu sein, da die geliebte Person sich allmählich in einen Fremden verwandelt. Sie fragt ihn, wer sie sei. „Eine alte Strunznulpe“, haut die Rollatorfahrerin dazwischen. „Das kann ich ihnen im Moment nicht sagen“, antwortet ihr Mann.

Worte gibt es wenige an diesem Abend. Dialoge sind extrakurz und vermeintlich sinnlos: „Wie spät ist es?“ – „Gestern war’s wärmer“ Minimonologe klingen wie beispielhaft formuliert: „Ich sehe die Wörter in der Luft vor mir hängen, aber ich kann sie nicht erreichen.“ Der Reiz des Abends ist der Versuch, den regressiven Prozess körperlich auszudrücken. Die Betroffenen können sprachlich nicht bewältigen, wie ihr Kurzzeitgedächtnis geschädigt, dann auch die Gefühlswelt und Persönlichkeitsstruktur angegriffen wird. Sterben auf Raten.

So ist „Amour“ vor allem ein Theater der Haltungen und Bewegungen – also Tanz. Wobei die Schauspieler mit äußerstem Mut zum Altsein einen je eigenen Motionskanon entwickeln. Wenn einer Tuba Windgeräusche entschweben, vollführt etwa Geyersbach einen tapsigen Taumeltanz, als müsste sie wie König Lear gegen einen tobenden Sturm ankämpfen. Mitglieder des Tanzensembles geben das Pflegepersonal. Kommen beide Darstellergruppen zusammen, wird hingefallen und wieder aufgehoben. Auch die Sängerin strauchelt ab und an. Niemand ist sicher vor Demenz & Co.

Was Zandwijk vor allem zeigen will, verdeutlichen die Pas de deux. Ein Tänzer umgarnt eine Patientin, führt zärtlich die Hand und absolviert mit ihr Hebefiguren. Wobei sie „Mon amour“ haucht. Liebe! Ein anderes Paar kommt zusammen, liebäugelt, streichelt sich, legt Hände auf den Po des anderen und schwoft los.

Idylle? Kitsch? Nein, im entspannten Glück regt sich Inkontinenz. Direkt auf den Boden wird gepinkelt. Das gesamte Ensemble kippt weiter Flüssigkeit auf die Bühne, um sie mit Schwimmring oder nackt als Rutschbahn zu nutzen. Ab unter die Dusche, wo eine jüngere und ältere Frau ihre Körper vergleichen. Voller Zuneigung. Das zeichnet die Produktion aus: der Mut, hinzuschauen beim Zerfall. Dass dieser Schrecken ernst genommen und mit Humor abgefedert wird – macht ihn leichter unerträglich.

Termine: 20., 21. und 29. Juni, jeweils 20 Uhr