Wenn die Blätter treiben
Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß

WENDE Der Sommer, der nicht war. Der Herbst, der kommt. Manch einen fürchtet’s vor ihm, andere haben ihren Frieden geschlossen und sehen seinen Sinn. Auch weil sie wissen, dass Dinge zu Ende gehen und wiederkommen

Scheiße, denkst du, Scheißherbst. Zum ersten Mal im Jahr schlägt dir der Wind ins Gesicht, der Regen trommelt auf deine Kapuze, und du kennst, was jetzt kommt, die Leute laufen mit geknickten Köpfen durch die Stadt, die Kälte macht sie aggressiver, die Straßen werden leerer und trostlos und hässlich und tiefgrau, fast trittst du in den Kotzfleck an der Kreuzung, und du weißt, dein nächster Urlaub ist duweißtnichtwann.

Und du magst es nicht, über nasse Kastanien zu laufen, du magst vielleicht die trockene, die du in deiner Jackentasche fühlst, mehr aber auch nicht, warum, fragst du dich, hat Goethe bloß ein Kastanien-Gedicht geschrieben, Liebeslyrik auch noch, was für eine bescheuerte Idee.

Die letzte Bahn hast du längst verpasst, kein Bargeld und keine Karten, sie haben dir das Portemonnaie geklaut, jetzt weißt du nicht, wie du nach Hause kommst, aber es ist eigentlich auch egal, am besten, du rauchst erst mal eine, obwohl du nicht rauchst.

Und du kannst nicht sagen, ob es gerade warm ist oder kalt, dafür spürst du den Alkohol noch zu sehr, ein Glück, denkst du, und: Was denkst du morgen über heute?

Du denkst an die schlechte Musik, die der DJ gespielt hat, und dass du gar nicht zum Tanzen kamst, dabei wolltest du doch, dass überhaupt die ganze Bar ein Drecksschuppen war und du vergessen hast, wie sie heißt, dabei warst du schon das zweite Mal dort. Und dann holst du die Kastanie aus der Tasche und überlegst, warum dein Abend schön war. ANNABELLE SEUBERT

Wer jetzt kein Haus hat …

„Wie viel kostet der billigste Schirm, den Sie haben?“ – „Neunfünfunneunzich“, sagt die Verkäuferin, „aber bei dem Sturm da draußen tun Se sich keenen Jefallen damit. Ick würd mir ’nen Stockschirm koofen.“

Einen Stockschirm, aha. Eins dieser riesigen, nicht zusammenklappbaren Spießerdinger. Die sauteuer sind. Ich schaue mir die Preise an, 80, 90 Euro. Vielleicht sollte ich mir doch keinen Schirm kaufen? Aber nein, der Herbst ist ja da, es regnet. Eine Berliner Lokalzeitung schrieb neulich: „Nun kommt mit aller Macht der Herbst.“ Es klang wie eine Drohung.

Klar, der Herbst kann auch schön sein. Die Bäume wechseln ihre Farbe, die Menschen sind weniger hektisch, die dümmlichen Sommerhits im Radio hören auf, kein „Nossa, Nossa“ mehr, was für eine Wohltat! Aber der Herbst bringt auch Unangenehmes mit sich: „Marianne“ zum Beispiel, das Tiefdruckgebiet, das es gerade regnen lässt. Wer braucht das schon? Und überhaupt: Sind nicht alle Jahreszeiten besser als der Herbst? Im Sommer gibt’s Sonne, im Winter Schnee und im Frühling blühende Landschaften. Im Herbst dagegen: Regen. Er mag wichtig sein, der Garten, die Bäume, aber ich mag ihn nicht. Also kaufe ich mir jetzt doch einen Schirm. 15 Euro kostet er; dafür ist er neongrün, eine Rebellion gegen das Grau in Schwarz, das man bei den Regenschirmparaden jeden Herbst mit ansehen muss. Als ich aus dem Kaufhaus komme, regnet es noch immer. Gott sei Dank, der Schirm hat sich gelohnt! Ich spanne ihn auf, sehe das nasse Laub am Wegesrand. Ich bin geschützt. Das ist ein wenig besser, aber: Wann wird es endlich Winter?

SEBASTIAN GUBERNATOR

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben

Mein Lieblingskiosk, Fees Getränkeladen, Ecke Sonnenallee/Pannierstraße, Berlin-Neukölln. Ich sitze auf der Bank, heißen Kaffee in der Hand. Vor mir die Straße, Autos, Fahrräder. Und Passanten.

Ein Herr mit grauem Schnurrbart und kariertem Hut holt seine Bierflasche hinter der Zeitung hervor, trinkt und lässt sie wieder verschwinden. Das Ordnungsamt erlaubt keinen Alkohol vor dem Kiosk. Am Eingang steht Tante Fee in Strickjacke und raucht. Die Nachbarskinder nennen sie so. Ihr gehört der Kiosk. Sie fragt mich, was ich schreibe, ob ich nicht friere. Kaum zu mir gesetzt, begrüßt sie eine Mutter mit Baskenmütze. Die Tochter lächelt, rückt ihren Mantel zurecht. Küsschen rechts, Küsschen links. Dann gehen sie. Die Arme verschränkt, Blicke über meine Schulter. „Schreib was über mich!“ Mehr lachende Gesichter. Ein junger Mann, der sich den dunkelblauen Schal festbindet. Ein Fahrradfahrer mit einem Kind auf dem Rücksitz, dick eingepackt. Wie ausgestopft sieht es aus. Tante Fee sagt: „Du musst Weinblätter essen, mit Joghurt und Knoblauch.“ Keskek ist auch gut bei diesem Wetter, Schmorfleisch mit Weizen und einem Schuss Paprikabuttersauce. Ein Hochzeitskorso rauscht vorbei. Für einen Augenblick höre ich orientalische Musik. Junge Mädchen mit Strickmützen. Ein Herrchen führt seine beiden Möpse spazieren. Wie ich durch den Herbst komme? „Kauf dir diese Fingerlinge“, sagt sie. „Wenn du sie trägst, weißt du, warum“.

CEYHAN GENC

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein

Als sie die Blätter am Boden sah, dachte sie, dass alle Bäume sterben. Die Jahreszeiten hatte sie gelernt, aber eine Vorstellung vom Wort Herbst bekam sie erst später. 18 Jahre lang kannte sie nur Grün. Kerala bedeutet das „Land der Kokospalmen“. Immergrüne Wälder – bis sie das erste Mal in ihrem Leben ein neues Land betrat.

Das war im Oktober 1972. Die Hand einer Frau hatte sie über eine Rolltreppe im Frankfurter Flughafen geführt. Traurigkeit überfiel sie mit dem Blick nach draußen. Andere Bäume. Dieses Braun dieser Blätter. Das erste Vorüberziehen der Landschaften verschmolz in ein Grau. Das ist der Herbst, sagte man ihr. Nichts war da von dem Gefühl des Übergangs, den Klang von Rilke hatte sie nicht im Kopf. Der unerwartete Verlust des Grüns machte sie blind für andere Farben.

Heute kann sie Schönheit in einem Herbsttag sehen. Das sanftere Sonnenlicht und die langsame Veränderung der Blätter. Die leuchtenden Farben. Sie mag den Herbst, sagt sie, auch weil er erwartbarer geworden ist. Das Wissen, dass Dinge zu Ende gehen und wiederkommen. Sie bindet sich einen Schal um und stellt sich auf die Kälte ein. Im Monsun ihrer Kindheit wärmte sie sich an einer Kerze, weil sie bei 25 Grad fror, erzählt sie. Sie lacht, wenn sie an ihren ersten Herbst zurückdenkt.

So, als wäre ihr diese Erinnerung für einen Moment selbst ein wenig fremd geworden.

JASMIN KALARICKAL