Gedankenexperimente für den neuen Sozialstaat

Hartz IV steht zur Disposition. Vielen Leuten wäre schon geholfen, wenn sie mehr selbst verdientes Geld behalten könnten. Ökonom Karl Brenke schlägt vor, einfach mal auszuprobieren, was dann passieren würde

Die verbreitete Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen System hat einen Namen: Hartz IV

Von Hannes Koch

Bald geht es los. Dann beginnt in Kiel die Arbeit des „Zukunftslabors“. Im Juni tritt der Beirat erstmals zusammen. Die schleswig-holsteinische Landesregierung aus CDU, FDP und Grünen erhofft sich Ideen zu „neuen Absicherungsmodellen“, um den Sozialstaat zu modernisieren.

Die verbreitete Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen System hat einen Namen: Hartz IV. An diesem Montag veranstaltet der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales seine Anhörung zu den Hartz-Sanktionen. Nicht umsonst gibt Berlins SPD-Bürgermeister Michael Müller die Losung aus: „Hartz IV überwinden“.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wird demnächst einen ersten kleinen Teilplan dafür vorlegen. 100.000 bis 200.000 Arbeitslose sollen öffentlich finanzierte Arbeitsplätze erhalten. „Kommunen, gemeinnützige Träger, aber auch Privatfirmen können dann Leute einstellen, die beispielsweise länger als fünf Jahre Leistungen vom Jobcenter erhielten“, sagt Kerstin Tack, die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. „Der Staat wird einen Lohnzuschuss zahlen, der anfangs 100 Prozent beträgt und über fünf Jahre abschmilzt.“

Das ist ein Vorhaben, es gibt zahlreiche weitere Ansätze. Gemeinsam ist ihnen, dass im Gegensatz zum alten Motto „Fördern und fordern“ nun das Fördern betont werden soll. Wie lassen sich Motivation und Möglichkeiten derjenigen verbessern, die wenig Geld haben und auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind?

In dieser Richtung plant die Große Koalition im Bund auch eine Reform der Midijobs. Das sind Tätigkeiten, die einen Monatslohn zwischen 450 und 850 Euro erbringen. Dazwischen steigt der Beitrag zur Sozialversicherung allmählich an. Diese Gleitzone will die Bundesregierung ausweiten. Auch für beispielsweise 950 Euro Lohn müsste man dann noch nicht die vollen Sozialbeiträge bezahlen und hat mehr vom selbst verdienten Geld auf dem Konto. Wohl 2019 will Heil einen Gesetzentwurf präsentieren.

Ein weiteres Thema ist die Anrechnung von Arbeitseinkommen auf Hartz IV. Wer heute dieses Arbeitslosengeld bezieht und beispielsweise einen Minijob mit 400 Euro Lohn annimmt, hat unter dem Strich nur 160 Euro mehr. Die übrigen 240 Euro Lohn werden auf die Sozialleistung angerechnet, Hartz IV sinkt dann um diesen Betrag. Dazu sagt Tack: „Wir diskutieren darüber, wie Hartz-IV-Bezieher mehr Geld vom eigenen Einkommen behalten können.“ Beate Müller-Gemmeke, Arbeitsmarktexpertin der Grünen im Bundestag, sieht das ähnlich: „Es wäre gut, wenn eigener Verdienst weniger stark auf Hartz IV angerechnet würde.“

Allerdings hätten dann noch mehr Leute als heute Anrecht auf Hartz IV. „Wie weit wollen wir das Sozialsystem ausdehnen?“, fragt Müller-Gemmeke. Unter Ökonomen ist außerdem umstritten, ob eine solche Reform nicht falsche Anreize setzt. „Vielleicht führt das dazu, dass man sich mit niedrigen Verdiensten zufrieden gibt und keine besser bezahlte Arbeit mehr anstrebt“, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Ich plädiere dafür, Experimente am Arbeitsmarkt durchzuführen, um diese Frage zu klären. Die Politik sollte testen, wie neue Mechanismen funktionieren.“

In der Debatte ist auch die negative Einkommensteuer, selbst in der SPD. Die zahlreichen Sozialleistungen und das Steuersystem würden quasi zusammengelegt. Praktisch sähe es so aus: Wer kein eigenes Einkommen hat, bekommt beispielsweise 800 Euro monatlich vom Staat, die sogenannte negative Steuer. Verdient man dazu, fließt weiter ein Zuschuss, der aber geringer ausfällt, je mehr man selbst erwirtschaftet. Bei etwa 2.000 Euro Verdienst würde es keine Sozialleistung mehr geben. Wer höheres Einkommen erzielt, zahlt steigende Steuern wie heute. Der Charme: Dieses System könnte viel einfacher sein, die teils widersprüchlichen Effekte diverser Sozialleistungen fielen weg, und jeder Bürger wäre abgesichert. Möglicher Nachteil: Die Veranstaltung wird teurer als heute, der Staat müsste Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen.

Müller-Gemmeke denkt in die Richtung der negativen Einkommensteuer, wenn sie befürwortet, „die sogenannten Aufstocker aus dem Sozialsystem herauszunehmen und die staatlichen Zuschüsse in Steuer­gutschriften umzuwandeln“. Aufstocker sind heute Leute mit niedrigen Löhnen, die trotzdem noch einen Zuschuss auf Basis von Hartz IV bekommen. Ökonom Brenke ist zurückhaltender: „Wie ein System negativer Einkommensteuer wirken würde, ist ebenfalls offen.“ Aber „auch hier wäre es gut, wenn man es in einem Feldversuch mit einigen Tausend oder Zehntausend Teilnehmern erprobt.“

Hartz IV – wie geht es weiter? So, wie es heute ist, bleibt es nicht. Dank der guten wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik bestünde augenblicklich die Gelegenheit, eine größere Reform in Angriff zu nehmen.