Haftantritt aus Prinzip: Ein Mann fährt ein

Weil Christoph Dorneich einen aus seiner Sicht falschen Bußgeldbescheid nicht bezahlte, kam er mit 77 zum ersten Mal in den Knast. Ein Blick in sein Tagebuch.

Kein Ausbruchs-Plan – nur eine schnelle Skizze des Trakts mit der Zelle, die Christoph Dorneich drei Tage lang bewohnte Foto: Christoph Dorneich (Zeichnung)

Meinen China-Rucksack aus Peking gepackt: Waschzeug, Handtuch, Schlafanzug, Unter­wäsche, Oberhemden, Socken – sowie meinen weißen Ordner zur „Polizei-Posse mit kriminellem Hintergrund“. Danach schnell noch Kaffee gebrüht und ab 10 Uhr eine halbe Stunde auf dem Balkon gefrühstückt: es gibt Wolken und Sonne, es ist trocken und milde.

Es ist kein Ausflug, auf den sich Christoph Dorneich am 5. April vorbereitet. An diesem Tag geht der 77-Jährige in den Knast. JVA Plötzensee. Sein Aufenthalt dauert nur drei Tage, aber Dorneich nimmt das ernst – so ernst, dass er ein „Gefängnistagebuch“ schreibt.

Radle bei gutem, aber etwas windigem Wetter flott von 10:38 bis 11:11 Uhr durch halb Westberlin. Parke mein weißes Damenrad vor dem modernen Gefängnisbau auf der linken Straßenseite. Finde den richtigen Klingelknopf erst nicht, weil der für Besucher defekt ist. Werde von drinnen hinter dem Fensterchen angeschnauzt. Spreche dann in die Mikrofonanlage fürs Personal und erhalte die Auskunft, dass ich für den Antritt einer Erzwingungshaft auf die andere Straßenseite muss, zu den roten Backsteinbauten mit dem großen, hellblauen Eisentor in der Mitte.

Dorneich hat noch nie eine Haftanstalt von innen gesehen. Dass sich das jetzt ändert, hat einen trivialen oder eben nicht so trivialen Grund, je nach Betrachtungsweise: Im Februar 2016 hatte der Architekt sein Fahrrad über den Wittenbergplatz geschoben, zehn Meter neben einer roten Fußgängerampel. Das ist seine Version. Die PolizistInnen, die ihn kurz darauf anhielten, schienen das auch so zu sehen. Allein: Der Bußgeldbescheid, der später eintraf, stellte ihm 60 Euro für das Überfahren der Ampel auf dem Rad in Rechnung. Ein Fußgänger-Bußgeld hätte nur 5 Euro betragen. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen.

Endlich bekomme ich meine Zelle zugewiesen, es ist die Nr. 131. Ein lang­schmaler Raum, den ich vom Gang durch eine große Eisentüre mit dreifacher Verriegelung betrete. Am andern Ende fällt als erstes ein hohes, großes Fenster auf, mit vergittertem Blick in einen grünen Innenhof. Davor, quergestellt, füllt die Schlafpritsche die volle Zellenbreite. […] In der Ecke zur Türwand steht das, was eine Gefängniszelle ausmacht, eine weiße Toilettenschüssel.

Detailversessenheit prägte auch Dorneichs Schriftwechsel mit der Justiz. Bloß dass die sich nicht sonderlich für die Version des vermeintlichen Rot-Fahrers interessierte. Sein mit Erinnerungsprotokollen und Standortskizzen belegtes Argument, die Ordnungshüter hätten ihn eben nicht beim Fahren erwischt, sich aber auf eine Lüge geeinigt, lief ins Leere. Nach zwei Jahren Weigerung, den verlangten Betrag zu zahlen, kam ein gelber Brief: die Aufforderung zum Antritt der Erzwingungshaft. Die taz berichtete, andere Medien auch – und Christoph Dorneich beschloss, das Ding durchzuziehen.

Mein Essen wird mir in die Zelle serviert: Tellergericht mit Kartoffeln, Gemüseschnitzel und dicker Tunke. Schmeckt mir gut. Sodann stellt man mir hin: eine Tüte Weißbrot-Toast, Schächtelchen mit Pfefferminztee, Mettwurst, Schmelzkäse, Margarine, Nuss-Nougat-Crème.

Der Häftling notiert alles: vom bürokratischen Aufnahmezeremoniell über die Ausgabe der Anstaltskleidung – u. a. 2 Oberhemden, dunkelblau mit weißen Längsstreifen (ziemlich schick), 1 Arbeitshemd aus festem Stoff in schönstem Königsblau –, die Untersuchung im Gefängniskrankenhaus, bei der eine leicht vergrößerte Schilddrüse festgestellt wird, bis zur „Fanpost“ von einem Zeitungsleser aus dem Badischen. Er denkt nach über die Funktionalität der Zellen, die ihn ganz entfernt an das Studentendorf erinnern, das er 1970 im Auftrag der Weltbank in Lusaka entwarf:

Ein Selfie vor dem Gefängnistor Foto: Christoph Dorneich

Pro Stockwerk gab es in den zwei- und vierstöckigen Häusern acht Doppelzimmer, also 16 Studenten. In den locker angeordneten Gebäuden mit viel Grün dazwischen hatte ich immerhin 1.000 Studenten unterzubringen. Die zwanglos verteilten Häuschen kann man des markanten Musters wegen gut erkennen aus der Luft. Man muss bei Google nur „University of Zambia, Lusaka“ eingeben.

So viel Grün gibt es in Plötzensee nicht, dafür norddeutsche Backstein-Gotik von hoher ästhetischer Qualität. Für einen Besuch der imposanten Gefängniskirche reicht Dorneichs Zeit gar nicht mehr, aber er kann sich am dritten und letzten Tag noch mit einigen Mithäftlingen unterhalten:

Ein gut aussehender Jüngling ist vor Jahren beim Schwarzfahren erwischt worden, abgetaucht durch mehrfaches Umziehen, in anderer Sache der Polizei aber wieder in die Hände gefallen. […] Nun soll der Vater von zwei Kindern mehr als 1.000 Euro zahlen und bekam 80 Tage „Erzwingungshaft“. Ein anderer bekam für 800 Euro Bußgeld gleich 85 Tage Erzwingungshaft […]; im Sommersemester 2018 kann er ein Studium beginnen – aber nur wenn die Mutter bis dahin das Geld zusammenbringt.

Jetzt wartet Dorneich erst mal ab. Zahlen will er weiter nicht. Dass er so bald erneut in einer Zelle sitzen könnte, wie eine Justizsprecherin der taz sagte, schließt er unter Verweis auf § 96 (3) Satz 3 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) aus: „Wegen desselben Betrages darf die Erzwingungshaft nicht wiederholt werden.“ Und selbst, wenn: „Wie das in Plötzensee abgelaufen ist, hat mich sehr positiv beeindruckt“, sagt er. Kein Vergleich zu den Zeiten, als nebenan NS-Gegner ermordet wurden, wie Dorneich beim Besuch der Gedenkstätte nach seiner Entlassung konstatiert: In einem Rechtsstaat zu leben, sei

[…] keine Selbstverständlichkeit, sondern ein großes Privileg. Das Ende dieses grauenhaften deutschen Justiz-Sündenfalls liegt nur etwas über zwei Generationen zurück, 73 Jahre genau. Weniger als ich alt bin. In der Geschichte der Menschheit ist das eine winzige Zeitspanne.

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