berliner szenen
: Siehst gar nicht so alt aus

Es ist vier Uhr nachts, als sie mit ihrem Rad in der Dunkelheit verschwindet, auf dem Weg am Landwehrkanal zwischen Schlesischer und Dreiländereck. Ich werde sie nie wiedersehen, denke ich. Sie war vom Fahrrad gefallen und konnte vor Lachen nicht mehr aufstehen. Wir waren beide sehr betrunken. Ich fand sie plötzlich so schön, dass ich sie fragte, ob sie mich küssen möchte. Und sie stand auf und sagte, sie wolle Pommes essen.

Jetzt ist sie weg, und ich fühle mich blöd. Ich sitze auf einer Bank am Kanal und frage mich, ob es wirklich so schlimm ist, als eine Gruppe Jugendlicher an mir vorbeigeht und jemand „Grüß Gott“ ruft. „Es gibt keinen Gott!“, rufe ich heulend zurück. Sie kommen zu mir und wollen wissen, was los ist. „Liebeskummer“, sage ich und erzähle ihnen nicht nur, was gerade passiert ist, sondern ein ganzes Beziehungsdrama.

Sie hören aufmerksam zu und machen große Augen, als ich sage, dass ich der Liebe wegen nach Berlin gezogen bin. Alles wird gut, sagen sie, es lohne sich nicht, wegen jemandem traurig zu sein.

Nach einer Weile umarmen sie mich und gehen fort, bis auf das Mädel mit dem ­roten Lippenstift und den langen Wimpern. Sie gibt mir einen Schluck Wodka aus der Flasche und erzählt, dass sie aus einer sehr strengen Familie kommt. Ihre Eltern hatten ihr verboten, ihren ersten Freund zu sehen. Sie tat es trotzdem und riskierte alles für ihn. Dann betrog er sie. „Arschloch“, sagen wir beide.

Sie fragt, wie alt ich bin, und findet, dass ich gar nicht „so alt“ aussehe. „Höchstens wie 25“, sagt sie und bringt mich zum Lachen.

Ich will wissen, wohin sie jetzt muss. „Nach Wedding.“ – „Oh“, sage ich. „Kein Problem, in zehn Minuten bin ich zu Hause.“ Ich frage, ob sie mit dem Hubschrauber abgeholt wird. Sie lacht, zeigt in Richtung Wasser und sagt: „U-Boot.“ Luciana Ferrando