Zwei Menschen mit Kopf

Ella Bergmann-Michel und Robert Michel zählen zu den Künstlern der avantgardistischen Moderne. Das Sprengel Museum Hannover stellt ihre Werke erstmals zusammen aus

Robert Michel: Ohne Titel (Propellerflugzeug). Entwurfszeichnung Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover© VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Von Bettina Maria Brosowsky

Wer meint, die experimentierfreudige Hannoversche Moderne rund um ihre Integrationsfigur Kurt Schwitters sei bekannt, der wird sich in der aktuellen Ausstellung im Sprengel Museum die Augen reiben. Denn zum ersten Mal ist in einer Retrospektive das Künstlerpaar Ella Bergmann-Michel und Robert Michel gemeinsamen zu sehen. Immer wieder wurden einzelne Werke von beiden gezeigt, so auch im letzten Jahr in der Synopse zur lokalen Avantgarde zwischen 1912 und 1933 „revonnaH“. Deren Raum, die große Wechselausstellungshalle, füllen nun 250 locker arrangierte Werke des Paares, die ihr Schaffen über fünf Jahrzehnte in so unterschiedlichen Disziplinen wie Zeichnung, Collage und Werbegrafik, Fotografie und Film aber auch Architektur belegen.

Ella Bergmann-Michel (1895-1971) aus Paderborn und Robert Michel (1897-1983) aus Vockenhausen lernten sich während des Studiums an der Großherzoglich Sächsischen Hochschule für bildende Kunst in Weimar kennen. Sie begann dort 1915, er 1917 – nach Pilotenausbildung, Versuchsfliegerei, Absturz und Lazarettaufenthalt. Aufgrund des Ersten Weltkriegs waren Studienreformen ausgeblieben, und beide opponierten gegen einen antiquierten Akademismus. Aber auch mit dem Bauhaus, das Walter Gropius 1919 aus dieser Hochschule und der Weimarer Kunstgewerbeschule amalgamierte, konnten beide wenig anfangen. Denn dessen frühe Phase war von der sektenhaften Esoterik des Schweizer Kunstlehrers Johannes Itten durchdrungen: vegetarische Kost, grobe Kleidung, Aufstehen im Morgengrauen.

Stattdessen schloss sich das seit 1919 verheiratete Paar dem lokalen Künstlerkreis um Johannes Molzahn an. Er war der charismatische Kopf eines schöpferischen Aufbruchs, der Expressionismus, aufkeimenden Dadaismus und vor allem Futurismus rezipierte, und am Ort als der „deutsche Boccioni galt“. Gropius schätzte seinen Kontakt, ebenso der einflussreiche Berliner Herwarth Walden, der unter dem Namen „Der Sturm“ eine Galerie nebst Zeitschrift betrieb. In Molzahns Atelier ging auch Schwitters ein und aus. Und so begann hier 1920 die lange Freundschaft zwischen den Michels und den Schwitters, die sich in der gemeinsamen Liebe zur Kunstform der Collage wie auch der Werbegrafik niederschlug, in Reisen, Ausstellungen, Kontakten zur internationalen Avantgarde. Und der es letztlich zu verdanken ist, dass der Nachlass des Künstlerpaares Ende der 1980er-Jahre nach Hannover kam: 2.500 Collagen, Zeichnungen und Entwürfe. Robert Michel wurde 1988 mit einer Einzelausstellung im Sprengel Museum gewürdigt, zwei Jahre später seine Frau.

Auch seine allererste Einzelausstellung hatte Michel in Hannover, 1921 in der Galerie Garvens. Ab 1920 und nur für drei Jahre vom Industriellenerben, Weltreisenden und Sammler Herbert von Garvens betrieben, pflegte sie ein radikales Programm künstlerischer Einzelgänger, zu denen auch Schwitters zählte. „Kürtchen“, so Michel zu Schwitters, beglückwünschte ihn per Postkarte zur Ausstellung und bat, wie bereits mit Molzahn, Werke zu tauschen.

Ausstellungskuratorin Karin Orchard verweist auf eine Schwitters-Lithografie mit Nietenlöchern, die mit dem Nachlass nach Hannover zurückkam. Für sie ist das Werk des Paares eine glückliche Ergänzung zum „Kosmos Schwitters“ im Hause. Orchard betont aber die künstlerische Eigenständigkeit und weiß auch um interne Grenzen zwischen dem individuellen Schaffen von Ella Bergmann-Michel und Robert Michel.

Denn auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Technikbegeisterung des Fliegers auf seine Frau abfärbte. Michel entwirft in frühen Jahren Flugzeuge, so eine fiktive Propellermaschine mit Amüsement an Bord, später futuristische Collagen wie ineinandergreifende Zahnräder, „Urfische“ aus Schwungscheiben und Treibstangenmechanik, eine Lok oder einen gezeichneten Lastwagen mit Stieren, die Tiere wie technische Apparate.

Auch Ella Bergmann-Michel kombiniert in dreidimensionalen Collagen gemalte Räder mit aufgelegter Holzmechanik, zeichnet Kompositionen aus Schaltkreisen oder räumlich geometrische Anordnungen. Aber ihr Interesse an der Technik speist sich aus dem Blick in die vom Menschen überformte Landschaft: Strommasten, Bahngleise, Steinbrüche.

Früh zogen beide auf den Familienbesitz der „Schmelzmühle“ im Taunus, in die Unabhängigkeit vom Kunstbetrieb und, wie Michel es nannte, „weg in die Praxis“. Sie bot um 1930 dann umfangreiche Aufgaben in dem sozial determinierten Bauprogramm „Das Neue Frankfurt“. Michel entwarf Licht-, Uhren- und Werbeanlagen sowie, in Kooperation mit der Architektin Lucy Hillebrand, individuelle Wohnbauten, günstige Einfamilienhäuser zum Festpreis, Tankstellen-Prototypen oder eine Gedenkstätte für die Opfer des Ersten Weltkrieges.

Bergmann-Michel dokumentierte fotografisch und im Film die bauliche Realität. Sie setzte dabei einer neusachlich kühlen, oft menschenleeren Bildästhetik den Blick in lebendige Organismen gemeinsamen Lebens entgegen, sei es in einer Erwerbslosenküche oder in dem vom niederländischen Architekten Mart Stam entworfenen Budge-Heim für alleinstehende Senioren. Ein Film zum Wahlkampf 1932 blieb unvollendet, sie wurde gar kurz inhaftiert, als sie eine Schlägerei vor dem Parteibüro der NSDAP aufnahm.

Die NS-Zeit überdauerten beide mit Landwirtschaft, Fisch- und Tierzucht. Bergmann-Michel begann im Krieg ihr Tagebuch „Briefe in die Nacht“ und blieb, anders als ihr Mann, künstlerisch produktiv: feine fraktale Zeichnungen und Aquarelle zeigen ihre seelische Notlage. In den 1950er-Jahren werden beide wiederentdeckt. Robert Michel, begeistert von der sowjetischen Raumfahrt, startet mit einem plakativen Spätwerk, ein wenig wie Nachwehen des russischen Konstruktivismus, noch einmal durch.

Für beider Œuvre aber mag gelten, was Ella Bergmann-Michel 1918/19 als Textpassage in eine Collage einflocht: „Menschen mit Kopf sind selten“. Denn nur sie scheinen zu wissen, was Kunst ist – in ihrer ganzen menschlichen Dimension.

Bis zum 2. September im Sprengel Museum Hannover